: „Es geht um Lust“
AUFKLÄRUNG Kinder müssen nicht sexualisiert werden, sie sind bereits sexuelle Wesen, sagen Silke Moritz und Sven Vöth-Kleine von der Beratungsstelle Pro Familia in Hamburg. Ein Problem damit hätten bloß die Erwachsenen, die das nicht akzeptierten
■ 40, ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet bei Pro Familia Hamburg als Sexualpädagogin.
INTERVIEW DANIEL WIESE
taz: Frau Moritz, Herr Vöth-Kleine, ist die frühkindliche Sexualität eine Erfindung von Sigmund Freud?
Sven Vöth-Kleine: Kindliche Sexualität ist keine Erfindung, es gibt sie. Das ist ein Prozess, der sich bei Kindern über Jahre vollzieht, Stichwort „psychosexuelle Entwicklung“. In Zeiten, in denen man sich sehr facettenreich mit Kindern auseinandersetzt, tritt das dann auf die Bühne.
Aber die kindliche Sexualität ist nicht genital, oder?
Silke Moritz: Ich würde jetzt nicht grundsätzlich sagen, dass Kinder kein genitales Lustempfinden haben, das haben sie schon, wenn sie sich selbst berühren zum Beispiel, oder wenn andere Kinder sie berühren, oder wenn sie auf dem Wickeltisch liegen und die Eltern sie waschen, dann ist das ein schönes Gefühl für die Kinder. Die Anlagen haben sie alle von Geburt an mitgekriegt, es ist alles da, alle inneren und äußeren Geschlechtsorgane sind vorhanden.
Aber es gibt doch Unterschiede!
Moritz: Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität. Kinder gehen ganz unbefangen da ran, sie haben noch kein Schamgefühl, sie sind neugierig. Das ist was Spielerisches, das ist überhaupt nicht zielgerichtet.
Es geht nicht um Orgasmus.
Moritz: Jedenfalls nicht um geplanten.
Vöth-Kleine: Aber es geht um Lust. Ich würde sagen, ein Kind ist auf jeden Fall erregungsfähig. Ist die Windel erst mal ab und haben die Hände freies Spiel, machen das Mädchen wie Jungen ganz bewusst so, weil sie herausgefunden haben, es ist schön, mich da zu berühren, aber vielleicht tun sie noch nicht mal das, dass sie so darüber reflektieren, sondern sie tun es einfach. Deswegen wird das in der Literatur auch so beschrieben, dass die kindliche Sexualität, wenn es um Genitalität geht, was total Egozentrisches ist, dass den Kindern egal ist, ob da Erwachsene drumherum sind, die sich jetzt vielleicht gerade schämen, weil gerade die Nachbarin zum Kaffee da ist, und das Kind mit hochrotem Kopf da sitzt und Selbstbefriedigung macht.
■ 44, ist Diplom-Sozialpädagoge und arbeitet bei Pro Familia Hamburg als Sexualpädagoge.
Wie verbreitet sind Sexspiele mit anderen Kindern?
Moritz: Das ist sehr verschieden. Manche Kinder sind sehr interessiert daran, in der Kita viel diese Körpererkundungsspiele mit anderen Kindern zu spielen, suchen sich auch ganz gezielt andere Kinder dafür aus. Andere Kinder haben gar kein Interesse daran. Daraus kann man aber keinen Rückschluss ziehen, dass die einen später eine erfüllte Erwachsenen-Sexualität haben und die anderen nicht.
Verlieben sich Kinder auch?
Vöth-Kleine: Was man in Elternratgebern zur Jugendsexualität liest über den Beginn der Pubertät, dass der Beginn der Pubertät die Zeit der großen Gefühle ist, das stimmt unserer Meinung nach nicht. Die meisten Erwachsenen können sich sehr gut daran erinnern, wenn sie im Kindergartenalter schon in jemand verliebt waren oder für jemand geschwärmt haben. Die wissen heute noch, wie diese Kinder damals hießen, und das ist für uns ganz klar der Beweis, dass diese ganz prägnanten, großen Gefühlserfahrungen eintreten, genauso wie diese ganzen anderen Gefühle wie Eifersucht.
Moritz: Auch Liebeskummer! Wenn ein Kind wegzieht, was einem ganz nah stand und plötzlich nicht mehr da ist, das reißt das eine wahnsinnige Lücke, und häufig ist es unser Auftrag, Eltern und Erzieherinnen zu sagen, ja, es kann sein, dass das Kind Liebeskummer hat.
Und dazu braucht es Leute wie Sie?
Vöth-Kleine: Es ist ja so, dass wir meistens gerufen werden. Weil die Kinder zum Beispiel Körpererkundungsspiele, sogenannte Doktorspiele, gemacht haben, und sich die Kita in der Verpflichtung sieht, die Eltern schlau zu machen. Weil es schon zu Irritationen kommt, und dann Fragen aufkommen: Fördern wir das? Oder nehmen wir Sexualerziehung sogar in unser Konzept auf?
Und was sagen Sie? Soll man das unterstützen?
■ Ist Erstanlaufstelle für alle, die akute Fragen zu Sexualität, Familienplanung und Partnerschaft haben.
■ Bundesweit betreibt Pro Familia 180 Beratungsstellen.
■ Zum Thema „Kindliche Sexualität“ werden die Sexualpädagogen der Pro Familia in den meisten Fällen von Kindergärten oder Elterninitiativen um Rat gefragt.
■ Für ErzieherInnen bietet Pro Familia Hamburg (in Kooperation mit anderen Einrichtungen) die einjährige berufliche Weiterbildung „Sexualpädagogische Kompetenz in Kindertagesstätten“ an.
■ Eltern können sich bei Pro Familia beraten lassen, wenn sie Fragen oder unterschiedliche Ansichten über die Sexualerziehung ihrer Kinder haben.
Moritz: Wir sagen, dass das zur kindlichen Entwicklung gehört und dass Kindern auch der Raum dafür gegeben werden sollte, unter bestimmten Regeln allerdings. Gerade wenn es um Körper und Gefühle geht, ist es immer ganz wichtig, dass es freiwillig geschieht, das heißt, dass darauf geachtet wird, dass es eine klare Stopp-Regel gibt. Wenn ein Kind aus so einem Spiel aussteigen möchte, dann muss das jederzeit möglich sein, auch während des Spiels. Die zweite Regel, die in der Kita klar sein muss, ist, dass keine Gegenstände in Körperöffnungen eingeführt werden dürfen. Als dritte Regel für Körpererkundungsspiele geben wir noch mit, dass möglichst Kinder eines ähnlichen oder gleichen Alters diese Spiele zusammen spielen. Weil es ganz oft ein Machtgefälle gibt, die Großen sind die Coolen, die Kleinen eifern den Großen nach, und weil es dann zu unschönen Situationen kommen kann und es Kleine schwer haben zu sagen: Ich steig jetzt aus.
Vöth-Kleine: Unser Ziel ist es, dass wir bei unserer Klientel, egal ob wir mit ErzieherInnen arbeiten oder mit Eltern, die Selbsterkenntnis erreichen: Es ist vielleicht doch nicht das, was ich am Anfang meinte, dass sich die Kinder da jetzt gegenseitig entjungfern. Das wird ja oft angenommen, dass die Körpererkundung Kinder sexualisieren würde, dass sie dann ganz früh beginnen würden mit Sexualität.
„Sexualisierung“ ist ein schwerer Vorwurf.
Vöth-Kleine: Dabei ist das Gegenteil der Fall: Kinder, die sehr viel über Sexualität wissen, über ihren eigenen Körper und die eigenen Gefühle, aber auch über die Körper von anderen und deren Gefühle, gehen besonders verantwortungsvoll mit sich und anderen um. Weil sie um die Grenzen wissen, weil ihnen das ganz klar gesagt wurde. Das stärkt Kinder, dass sie lernen: Mein Körper gehört mir, und ich bestimme über ihn. Und sie kommen dadurch in die Lage, die Transferleistung zu machen: Der Körper des anderen gehört dem anderen.
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