: „In uns Menschen gibt es eine Sehnsucht nach Natur“
DER SCHÄFER Die Zahl der Schäfer in Brandenburg geht stark zurück. Jan Greve hingegen hat seinen alten Beruf aufgegeben und sich zum Schäfer ausbilden lassen. Ein Gespräch über Freiheit, Nachbarschaft auf dem Land und den größten Feind der Schafe: den Wolf
■ Greve wird 1949 in Celle geboren. In Berlin arbeitet er 20 Jahre beim Pharmakonzern Schering. 1994 zieht der Chemiemeister aufs Land und wird Schäfermeister.
■ Nahe dem Dorf Storbeck bei Neuruppin betreiben die Greves eine ökologische Landwirtschaft mit 450 Schafen. Es sind Coburger Fuchsschafe und graue gehörnte Heidschnucken. Die Tiere werden auf dem „Heidschnuckenhof“ geschlachtet, das Fleisch wird direkt vermarktet. Greve ist Vorsitzender des Schafzuchtverbands Berlin-Brandenburg.
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Herr Greve, wie ist das, auf der Weide zu stehen und Schafe zu hüten?
Jan Greve: Das ist eine besondere Atmosphäre. Die Köpfe der Tiere sind gebeugt. Ich höre die Fressgeräusche, spüre die Zufriedenheit. Das erfüllt mich mit Glück.
Wie viele Schäfer gibt es in Brandenburg noch?
Die Schafhaltung ist stark rückläufig. Seit rund zehn Jahren hat sich die Zahl halbiert. Heute gibt es noch rund 80 hauptberufliche Erwerbsbetriebe und rund 60.000 Mutterschafe in Brandenburg. Die meisten Schäfer wirtschaften so wie ich. Das heißt, die Tiere haben mehr oder weniger feste Weiden im Umkreis des jeweiligen Heimatdorfs. Man nächtigt nicht mehr bei ihnen, obwohl es das noch vereinzelt gibt.
In den Kinos läuft derzeit der preisgekrönte Dokumentarfilm „Winternomaden“. Eine Schafhirtin und ein Hirte ziehen vier Monate lang ohne festes Quartier mit 800 Schafen, drei Eseln und vier Hunden im Winter durch die französische Schweiz. Haben Sie sich mit den beiden identifiziert?
In Teilen schon. Der Film zeigt die Härten des Berufs und die Leidenschaft der beiden. Ohne Leidenschaft geht gar nichts. Die beiden fühlen sich frei. Man hat das Gefühl, dass es sich um Menschen handelt, die noch sehr dicht an ihrer Genetik leben.
Was meinen Sie damit?
Der Mensch lebt seit Jahrtausenden von und mit der Natur. Aber seit 200 Jahren nimmt die Entfremdung von ihr immer mehr zu. Wir leben mehr und mehr im Widerspruch zu unserer Genetik. Deshalb gibt es in uns eine Sehnsucht, die sich auf Naturphänomene richtet.
Es scheint, als hätten Sie ihre eigenen Sehnsüchte realisiert. Wie kam es dazu?
Ich habe über 20 Jahre beim Pharmakonzern Schering in Berlin als Chemiemeister gearbeitet. Meine Frau, unsere Tochter und ich haben in einem kleinen Häuschen in Spandau gewohnt. Nach der Wende haben wir uns in Brandenburg nach etwas Größerem umgeguckt, zunächst ohne berufliche Ambitionen. Über die Zweite Hand sind wir 1994 auf dieses Anwesen im Landkreis Ostprignitz-Ruppin gestoßen. Als ich die Allee runterkam, das alleinstehende Haus sah und mein Blick über das weite Land schweifte, da war klar: Das ist es.
Ihrer Frau ging das auch so?
Nicht so ganz. Sie war rationaler und hat die viele Arbeit gesehen. Der Hof war eine ziemliche Ruine. Ganz ursprünglich war das mal ein Vorhof des Guts Kränzlin. Hier wohnte der Meier, der Vorarbeiter des Guts, der die Arbeit zuteilte. Nach dem Krieg wurde der Hof als Aussiedlerhof für Flüchtlingsfamilien genutzt.
Wie ging es weiter?
Es war ziemlich schnell klar, dass wir uns hier eine neue Existenz aufbauen und Schafe halten. Zu Hause in Niedersachsen, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir früher auch ein paar Schafe. Meine Frau ist dann in Wusterhausen zur Landwirtschaftsschule gegangen, um Landwirtin zu werden. Ich selbst habe mich zum Schäfermeister ausbilden lassen.
Was hat Ihre Frau ursprünglich gelernt?
Erzieherin. Ihre Idee war auch, dass wir hier Pflegekinder aufnehmen. Das haben wir eine Weile gemacht. Ein Pflegekind aus dem Kinderheim in Pritzwalk haben wir dann adoptiert: Unser Sohn wird demnächst 26, er arbeitet hier. Der Plan ist, dass er den Hof übernimmt. Aber man weiß ja nicht, wie es kommt – gerade sind wir dabei, den Betrieb umzustellen. Letztes Jahr haben wir 400 Hektar verloren. Das sind rund zwei Drittel der Fläche, die wir ursprünglich bewirtschaftet haben.
Was war der Grund?
Im Südbereich des früheren Bombodroms bei Wittstock, nicht weit von hier, haben wir mit unseren Schafen Heidepflege gemacht, also das Gras kurz gehalten. Nach dem Abzug der Bundeswehr von dem Truppenübungsplatz wurde ein Teil des Geländes an die Sielmannstiftung abgetreten. Unsere Pachtverträge wurden nicht verlängert. In Hochzeiten hatten wir 1.800 Schafe, letztes Jahr mussten wir den Betrieb erheblich verkleinern. Jetzt sind es nur noch 450 Tiere. Ich musste auch Beschäftigte entlassen.
Was haben Sie für ein Verhältnis zu Ihren Tieren?
Die Tiere sind mein Broterwerb. Aber nicht nur deshalb sind sie mir ans Herz gewachsen. Ich liebe meinen Beruf und deswegen auch meine Tiere. Sie sollen es bei mir gut haben, und irgendwann schlachte ich sie auch. Wir vermarkten die Lämmer zu großen Teilen selbst an Berliner und Neuruppiner Kunden. Die Tiere werden so stressarm wie möglich bei uns auf dem Hof geschlachtet. Zu den Mutter- und den Leitschafen, die die Herde anführen, hat man ein besonderes Verhältnis.
Sie selbst sind Fleischesser?
Ich wüsste nicht, warum ich davon lassen sollte. Das Entscheidende ist, unter welchen Bedingungen das Tier gelebt hat. Da kommt wieder die Genetik ins Spiel. Schafe fressen eigentlich Gras und Heu. Wenn man sie nicht zusätzlich mit Kraftfutter füttert, sind sie auch keine Nahrungskonkurrenten für den Menschen. Und Weidehaltung unter freiem Himmel ist ökologisch sehr sinnvoll und fordert die Artenvielfalt.
Fühlen Sie sich inzwischen als fester Bestandteil der Region?
Man müsste vermutlich drei Generationen lang hier leben und wäre es dann immer noch nicht (lacht). Wir haben einen Nachbarn, mit dem kommen wir sehr gut aus. Als Schäfer bin ich im Dorf akzeptiert, aber die Kontakte sind eher sporadisch. Der Brandenburger Menschenschlag ist schon was Besonderes.
Sie sind Vorsitzender des Schafzuchtverbands Berlin-Brandenburg. Ein heikles Thema treibt die Schäfer um: die Wölfe, die in Brandenburg angeblich wieder auf dem Vormarsch sind.
In Brandenburg sind schon über 300 Schafe von Wölfen gerissen worden.
Von wie vielen Wölfen in Brandenburg gehen Sie aus?
Da gibt es sehr unterschiedliche Schätzungen. Ich denke, wir haben hier weit über 100 Wölfe. Für die Tierhalter ist das ein Riesenproblem. Ein Wolf, der es in ein Gehege schafft, tötet so viele Tiere, wie er kann. Er ist ein Vorratstöter; er will Vorräte schaffen. Aus seiner Sicht bleibt die Beute liegen, und er kann jeden Tag wieder hingehen und fressen.
Die Schafhalter könnten ihre Tiere besser schützen. Außerdem gibt es vom Land Brandenburg für jedes gerissene Schafe Entschädigung.
Die Schutzmaßnahmen kosten aber sehr viel Geld, das wir nicht haben. Man kann sich mit Elektrozäunen und Herdenschutzhunden wappnen. Aber absolute Sicherheit gibt es nicht. Der Wolf bedeutet für uns zusätzliche Mehrarbeit und Unsicherheit. Das kann sich keiner vorstellen, mit was für einem Sauerkloß im Hals man morgens losfährt, um zu gucken, ob auf der Weide alles in Ordnung ist.
Übertreiben Sie da nicht etwas?
Überhaupt nicht. Von mir waren noch keine Schafe betroffen. Aber ich mache mir auch sehr viel zusätzliche Arbeit, um meine Herde zu schützen. Keine zwei Kilometer von hier ist ein Kalb gerissen worden. Keine fünf Kilometer entfernt ist ein Dorf schaffrei gerissen worden.
Wie bitte?
In diesem Dorf war der Wolf mehrfach. Da gibt es kein einziges Schaf mehr. Das Damwildgatter ist plattgemacht worden. Das nächste Damwildgatter 30 Kilometer entfernt auch. Darf’s noch mehr sein?
Forscher sagen, jeder Dorfhund sei gefährlicher als der Wolf.
Das stimmt nicht! Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Dorfhunde verspeist der Wolf im Vorbeigehen. Wenn sich die Wölfe weiter unbegrenzt ausbreiten dürfen, werden wir in Brandenburg bald 1.000 Wölfe haben, das ist das Ziel der Wildbiologen. Die emotionale Ablehnung der ländlichen Bevölkerung wird dann zunehmen, weil die Wölfe immer größere Schäden anrichten. Die Gefahr wächst, dass man Wölfe illegal jagt, vergiftet oder mit sonst was für Methoden bekämpft. Damit ist dieser Tierart auch nicht gedient.
Was wäre Ihr Vorschlag?
Eine Forderung des Schafzuchtverbands ist, Wölfe nur in ausgewiesenen Gebieten – zum Bespiel angrenzend zur Oder – zuzulassen. Die Probleme mit der Tierart Wolf sind so viel besser zu managen und zu finanzieren. Tiere außerhalb dieses Gebiets werden bejagt.
Themenwechsel: Seit Freitag läuft die Grüne Woche. Was zeigt ihr Verband dort?
Wir stellen Tiere aus und machen Aktionen zu Landschaftspflege, Wolle, Schur und Fleisch. Ich persönlich werde diesmal mit meinen Schurschafen dort sein.
Mögen Sie die Grüne Woche?
Ich bin kein Freund von Massenveranstaltungen. Aber die Grüne Woche ist sehr beliebt. Sie ist eine riesige Konsummesse, aber auch ein politisches Ereignis. Das sollte man nutzen. Ich bin Lobbyist der Schafhaltung. Da gibt es etliche Gelegenheiten, das Anliegen der Schafhaltung zu vertreten.
Was genau macht für Sie die Faszination am Landleben aus?
Gucken Sie aus dem Fenster. Horchen Sie raus, riechen Sie. Alle Wahrnehmungen, die Sie hier draußen haben, sind unterschiedlich zur Stadt. Der Blick, die Luft, der Geruch, die Freiheit.