Übervater Mao

COMIC „Ein Leben in China“ von Philippe Ôtié und Li Kunwu erzählt die neuere Geschichte des Landes. Im ersten Teil erlebt ein Kind die Ära Mao Zedongs

Sein leiblicher Vater wird vom mustergültigen Parteidiener zum Zweifler und Fremdkörper

VON WALDEMAR KESLER

Der französische Comic-Autor Philippe Ôtié und der chinesische Zeichner Li Kunwu boten 2005 den Verlagen Delcourt und Dargaud ein Projekt über das Leben Marco Polos an. In einem Abstand von fünfzehn Minuten antworteten ihnen die beiden wichtigsten französischen Comicverlage, dass sie lieber eine von einem Chinesen erzählte Geschichte Chinas herausbringen würden. Das Format der Graphic Novel hatte gerade sein Potenzial zum Kassenschlager offenbart: Marjane Satrapis autobiografische Geschichte „Persepolis“ war ein internationaler Millionenerfolg gewesen. Delcourt und Dargaud witterten ein Erfolgskonzept: eine persönliche Zeitzeugengeschichte aus einem Land, das der Westen aus der Ferne bloß als totalitären Block wahrnimmt.

Der dreiteilige Geschichtscomic „Ein Leben in China“ basiert auf den Erinnerungen Li Kunwus, die Philippe Ôtié aufgearbeitet hat. Da es eine französische Auftragsarbeit ist, richtet sich die Erzählung in erster Linie an europäische Leser. Li Kunwu dankt im Buch allen, die ihm „die Geheimnisse westlichen Denkens“ erschlossen haben. Seltsamerweise spricht er ihnen auch einen großen Anteil an seinem Erinnern zu.

Der nun auf Deutsch erschienene erste Teil „Die Zeit meines Vaters“ spannt einen Bogen vom Herbst 1950 bis zum Tod Mao Zedongs am 9. September 1976. Der zweite Teil erzählt aus der Zeit bis in die frühen achtziger Jahre, der dritte widmet sich dem neuen China ab der Deng-Xiaoping-Ära bis 2009. „Die Zeit meines Vaters“ ist aus der Perspektive eines Kindes erzählt, des kleinen Xiao Li, der die Auswirkungen staatlicher Kampagnen wie dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1961) und der Kulturrevolution (1966–1976) in seiner nächsten Umgebung beobachtet.

Li Kunwu und Philippe Ôtié wollten bei ihrer Darstellung der Geschichte Chinas einen Mittelweg zwischen chinesischer Propaganda und der distanzierten europäischen Kritik finden. Der Zeitzeugenbericht von Li Kunwu nimmt jedoch in „Die Zeit meines Vaters“ Züge einer kommunistischen Modellbiografie an.

Xiao Lis Aufwachsen spielt sich ganz im Zeichen Maos ab. Sein leiblicher Vater wird vom mustergültigen Parteidiener zum Zweifler und Fremdkörper. Er wird schließlich im Zuge der Kulturrevolution denunziert, verschwindet von der Bildfläche und landet in einem Umerziehungslager. Aber in Xiao Lis Leben scheint die Omnipräsenz des ideologischen Übervaters Mao alle Verluste aufzuwiegen. Li Kunwu lässt seinen Erinnerungen ihre Lücken. Es gehört zu seinem Konzept, „Filmrisse“ einzubauen, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft werden, und irritierende Leerstellen stehen zu lassen: Das Schicksal des Vaters und die Verehrung Maos scheinen für Xiao Li in keinem Widerspruch zu stehen.

Mit der Entscheidung, den Erfahrungshorizont im ersten Teil auf den eines Kindes zu beschränken, gewinnt der Band so viel, wie er verliert. Es braucht schon eigenes Hintergrundwissen, um die Ereignisse politisch und gesellschaftlich einordnen zu können. Man muss Chinas kulturelles Selbstverständnis und seine historischen Traumata kennen, damit alles, was im Buch geschieht, nicht schlicht wie kollektiver Irrsinn erscheint. Aber wenn Xiao Li begeistert mit seinen Grundschulfreunden ausschwärmt, um alle ernteschädigenden Insekten zu töten, wird die staatliche Verführungskraft auf kindliche Gemüter spürbar: Die Kleinen gehen sogar ihrem Spieltrieb im Staatsdienst nach.

Doch erhebt „Ein Leben in China“ nicht den Anspruch, Chinas Politik bloßzustellen. Li Kunwu wollte sich nicht positionieren, sondern die Erlebnisse seiner Generation bewahren. Bei einer Buchpräsentation in der Universitätsbibliothek in Le Mans sagte er: „Ich wollte den jüngeren Generationen die wichtigen und fundamentalen Veränderungen spürbar machen, die China in den letzten fünfzig Jahren durchgemacht hat. Veränderungen, die niemand in solch einer Geschwindigkeit für möglich gehalten hätte.“ Ob er diesem Anspruch genügt, werden die nächsten Bände zeigen.

Philippe Ôtié, Li Kunwu: „Ein Leben in China. Die Zeit meines Vaters“. Edition Moderne, Zürich 2012, 256 Seiten, 24 Euro