Berliner Szenen: Das Leben schätzen
Alternative Tentakel
Rund um die Oberbaumbrücke standen jede Menge Laster und Anhänger, es gab einen Schmink- und einen Cateringwagen. Zeitweise mussten Fußgänger und Fahrradfahrer auf der Straße laufen, weil ein Teil der Brücke abgesperrt war. Nachdem ich all die Scheinwerfer hinter mir gelassen hatte, stieg ich von meinem Rad und machte halt. Die Sonne glitzerte so schön auf der Spree, dass ich mich an ein Geländer stellte und auf das Wasser schaute. Doch nach wenigen Sekunden wurde meine Aufmerksamkeit abgelenkt.
Ich sah ganz possierliche Tiere, die ich noch nie in Berlin gesehen hatte. Sie waren klein und hübsch, orange, weiß und grün, sechs Stück an der Zahl. Je nachdem, wie der Wind wehte, flatterten ihre kleinen Tentakel lustig in der Luft. Es waren Quallen, die ich da am Ufer der Spree sah! Doch sie waren weder glibberig noch nass, sondern furztrocken. Die Quallen an der Oberbaumbrücke waren kleine gehäkelte Kunstwerke, die jemand an das Geländer am Wasser gebunden hatte.
Es war lustig, die Touristen zu beobachten, die jede Menge Fotos von der Oberbaumbrücke machten. Alle übersahen die von Menschenhand gefertigten Tierchen am Wasser. Auf dem Geländer, an dem sie festgebunden waren, waren einige Kommentare von Berlin-Besuchern gekritzelt. Neben einem Herz stand „Dunja + Jim“. Die Botschaft, die am nächsten zu den Quallen geschrieben stand, war in italienischer Sprache. Sinngemäß stand da zu lesen: Wo die Liebe nicht zu bekommen ist, bleiben Sonne und Wind.
Als ich wieder zu meinem Fahrrad ging, fielen mir zwei große in den Boden gelassene Platten auf, auf denen in deutscher und englischer Sprache ein Satz stand: „Halte hier an, schätze das Leben für eine Minute und lächle.“ Genau das hatte ich getan.
Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen