: Polen postmodern
Die polnische Rechte definiert sich nicht über Antisemitismus oder Fremdenhass – das Problem der neuen Regierung ist ihr Verständnis vom Staat und von der Gesellschaft
Das Erlebnis wiederholt sich im verfassungsgemäßen Rhythmus: Alle fünf Jahre wird in Polen der Präsident gewählt. Alle fünf Jahre fühlt sich die Intelligenz betrogen, bedroht, enttäuscht: Immer wird der Falsche gewählt. 1990 fiel der Wunschkandidat Tadeusz Mazowiecki bereits im ersten Durchgang gegen einen aus dem Exil zurückgekehrten Nobody durch. 1995 gewann der Postkommunist Aleksander Kwaśniewski gegen die Legende der Gewerkschaft Solidarność, Lech Wałęsa; der Katzenjammer war besonders groß, weil die Sozialdemokraten mit dieser Präsidentschaftswahl an alle Schalthebel der 1989 verlorenen Macht zurückgekehrt waren.
Nur 2000, als der inzwischen populäre Kwaśniewski die Bestätigung als Präsident bereits im ersten Durchgang erreichte, rief die Entscheidung der Wähler keine größeren Emotionen hervor. Umso größer die Enttäuschung heute: Mit Lech Kaczyński ist ein Politiker Präsident geworden, der das liberale Erbe der Solidarność konsequent zum Feindbild erklärt. Der Liberalismus biete keine Lösungen für die Zukunft Polens, da er nur den Reichen diene. Diese Schicht nahm die Wahlkampfpropaganda der Nationalkonservativen besonders deutlich ins Visier: Der bruchlose Übergang vom Staatssozialismus zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft, die Straffreiheit der Exkommunisten und deren Verankerung in Staatsapparat und Geheimdiensten, Banken und Konzernen – all dies habe zu einer „dritten Republik“ der Seilschaften geführt, die durch eine radikal gesäuberte „vierte“ abgeschafft beziehungsweise ersetzt gehört. Die eigentliche Gestaltungskraft wird dabei verfassungskonform nicht im Präsidialamt liegen – das Staatsoberhaupt kann in Polen innenpolitisch nicht sehr viel mehr bewegen als in Deutschland – sondern bei der Regierung. Und die ist ebenfalls in den Händen der Schwarzen.
Die Rechte in Polen war 1989 kaum noch vorhanden, sie musste sich neu erfinden. Das Ergebnis 16 Jahre später ist eine Bewegung, die weltanschaulich konservativ, national und katholisch geblieben ist, im sozialen und wirtschaftlichen Bereich jedoch das Erbe der Linken angetreten ist; das Etikett „solidarisch“, mit dem sie ihre Verbundenheit mit der antikommunistischen Opposition betont, sollte über eine grundsätzlich sozialistische Disposition in ökonomischen Fragen nicht hinwegtäuschen.
All dies ruft in deutlich erkennbaren Teilen des Landes Befürchtungen hervor – seit 1990 stimmen der Osten und Südosten für konservative Losungen, während der Westen und Nordosten für die Linke im weitesten Sinne votieren. Eine ebenso deutliche Trennlinie verläuft zwischen Dorf und Kleinstadt auf der einen und der Großstadt auf der anderen Seite. Und heute fragen sich die jüngeren, besser gebildeten und verdienenden, weniger von Arbeitslosigkeit geplagten Großstädter, was sie von der Omnipräsenz der Rechten im Warschauer Regierungsviertel zu erwarten haben.
Die Ängste decken sich mit jenen der „Alteuropäer“ westlich der Oder – wenigstens einmal macht die folgenreiche Erfindung von Rumsfeld Sinn – nur bedingt. Antisemitisch sind die neuen Machthaber nicht, populistischer als andere Parteien haben sie im Wahlkampf auch nicht agiert und Fremdenfeindlichkeit spielte im modernen Polen noch nie eine Rolle. Das Problem ist das Verhältnis zum Staat und seiner Rolle in der Gesellschaft. Die Brüder Kaczyński halten nicht allzu viel vom gegenwärtigen Staatsapparat – kaum jemand, der besserer Meinung wäre. Sie glauben freilich, ihn durch die Schaffung neuer Institutionen und Verfahren ganz anders gestalten zu können: Durch eine Generalüberprüfung der Privatisierungsverfahren, durch einen nebulösen Sonderausschuss „Wahrheit und Gerechtigkeit“, durch Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft. Während das letzte Ziel durchaus konsensfähig bleibt – ist es ja überall, wo der „politische Kapitalismus“ als strukturelles Problem der Transformation erkannt worden ist –, ist es die Vermehrung der staatlichen Funktionen und Vorrechte, die wohl die meisten Ängste hervorruft. Die Zivilgesellschaft hat sich in der III. Republik prächtig entwickelt. Sie braucht keine Sonderausschüsse und Neugründungen von Ämtern, die eine (noch) stärkere staatliche Kontrolle etablieren. Das Versprechen, neue Beamte würden besser verwalten als die alten, weil sie sich von erhabenen moralischen Grundsätzen leiten ließen, wirkt ebenso unglaubhaft. Und dass Staatsanwaltschaft, Geheimdienste, Polizei und Steuerfahndung gerade dann auf politische Vorgaben nicht mehr reagieren, wo sie im Konzept der moralisch-politischen Wende in eine amtlich beglaubigte Schlüsselrolle hineinschlüpfen, kann man sich nur schwer vorstellen.
Diese grundsätzlichen Einwände gegen Instrumente und absehbare Folgen der Politik der moralischen Gesundung werden begleitet von historischen Erinnerungen. Schon 1926 war Józef Pilsudski, ehemaliger Sozialist und Staatsgründer 1918, mit dem Ziel der Sanierung der maroden parlamentarischen Demokratie zu einem Staatsstreich angetreten. Die von ihm errichtete Diktatur war nicht sehr erfolgreich, die moralische Sanierung misslang. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs stand Polen im europäischen Vergleich kaum besser da als 1925.
2005 sind die Polen klüger als vor achtzig Jahren. Eine Diktatur liegt außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Kaum mehr als zehn Prozent der wahlberechtigten Bürger (bei einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent stimmten 27 Prozent für die Nationalkonservativen) haben eine Partei gewählt, die die Frustration über die Mühen und Sackgassen der Transformation in den Mittelpunkt ihres Programms stellt: die Angst vor dem Markt und vor einem weiteren Verlust an sozialer Sicherheit, das Misstrauen gegenüber Privatisierung und Globalisierung, der Glaube an die Allmacht von korrupten Seilschaften und Brüssel. Das Problem mit der Verwandlung dieses Ängstepakets in politisches Handeln wird darin liegen, dass weder ein Staatskapitalismus noch die Abschottung von den vermeintlich unheilvollen Einflüssen aus dem Westen möglich sind, denn der polnische Weg in die Postmoderne ist längst beschritten. Er mag nun in diesem oder jenem Bereich verzögert werden. Viele Bürger werden dem Staat noch misstrauischer als bisher auf die Finger schauen, was weder dem einen noch dem anderen schaden sollte. Einige werden sich in dieser Republik noch weniger wohl fühlen als bisher – keine besonders erfreulichen Perspektiven; entscheidend sind sie nicht. Es gibt ein Hauptthema in Polen, und das heißt – ähnlich wie bei unserem westlichen und südlichen Nachbarn – Arbeitslosigkeit. Gegenwärtiger Stand: die höchste in Europa, Tendenz fallend. Sollte die Rechte es schaffen, wie ihr gerne zitiertes Vorbild Aznar in Spanien, die Arbeitslosigkeit tatsächlich drastisch zu reduzieren, wird die Bereitschaft der Bürger steigen, über weiterführende Perspektiven schwarzer Politik nachzudenken. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.
WLODZIMIERZ BORODZIEJ