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Archiv-Artikel

Brausende Landschaft und Weidezaun

DAS GENRE USA Die Ausstellung „Amerikana“ im Realismusstudio der NGBK versäumt zu fragen, was es heißt, von Europa aus über amerikanische Folk- und Populärkultur nachzudenken. So bleibt es beim bloßen Mythen-Update

Wie eine lange Straße zieht sich die Fotoserie Gobers durch den schmalen Raum der NGBK

VON DOMINIKUS MÜLLER

Nummernschilder, verbeulte Stoßstangen, Parkplätze. Schnee fällt auf die überdimensionierten Autos älteren Baujahrs. Ein Blick aus dem Fenster, ein Weidezaun. Brausende Landschaft, Wald, Strand – und dazwischen abfotografierte Zeitungsausschnitte, die den Mord an einem Homosexuellen genauso dokumentieren wie die ultrakonservative Moralgesellschaft, die den ideologischen Grund dafür legt.

Bilder von Robert Gober, einem der Großen der zeitgenössischen amerikanischen Kunst. Und ein uramerikanisches Genre: ein melancholischer Roadmovie, immer entlang der endlosen Straßen, weg von den Städten, immer tiefer hinein in die Weite des Landes. Ein Trip, zwei Serien, einmal 1978, ein zweites Mal 2000. Ein beiläufiges Bild, ein Land im Vorüberziehen, eine Kultur im Transit. Ein Mythos, ein Update.

Wie eine lange Straße zieht sich die Fotoserie Gobers durch den schmalen Raum der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Sie ist das Kernstück der neuen Ausstellung des Realismusstudios, „Amerikana“ betitelt, die links und rechts dieser Hauptstraße sieben weitere Künstler aus New York versammelt: um die uramerikanischen Mythen, die jeder innerhalb und außerhalb der USA im Kopf spazieren trägt, einmal mehr zu befragen.

Es beginnt einigermaßen erwartbar mit Mary Luciers Dekonstruktion des Bildes des einsamen weißen Macho-Mannes in den Rodeo-Arenen des Mittleren Westens, für die sie den Tanz von Mann und Bulle in Kaleidoskop-Manier so lange zusammenfaltet, bis er zusammenstürzt wie ein Kartenhaus. Und das endet ganz hinten mit Paul Pfeiffers irgendwie doch genussvoller Zerlegung einer TV-Beichte von Michael Jackson. Sein eingefallenes und immer wieder phänomenal bleiches Gesicht flimmert dabei jedoch nur über einen kleinen Bildschirm. Seine Stellungnahmen zu den Vorwürfen des Kindesmissbrauchs, sein Plädoyer für Unschuld, die Beschreibung der hochnotpeinlichen Leibesvisitation auf der Polizeistation und die Ausführungen zur plastischer Chirurgie werden dagegen auf einer großformatigen Projektion von einem Kinderchor gesprochen. Ziel ist erkennbar weniger Jackson selbst als vielmehr eine skandaldurstige Medien- und Celebritygesellschaft, die nichts genüsslicher goutiert als den tiefen Fall eines Sterns. Cowboys und Medien – Amerika. Klar.

Dazwischen finden sich dann Martin Becks Fotografien vom größten Bikertreff der Welt in Sturgis, South Dakota: aneinandergereihte Motorräder, verwitterte Straßenfassaden und traurige Ödnis der Prärie. Oder der Animationsfilm von Martha Colburn, der beständig historische Indianerkriege und Siedlergewalt in aktuelle Konflikt-Herde des „Global War on Terrorism“ morpht. Cowboys in Tarnfarben, ist das nicht doch irgendwie zu einfach? Unterkomplex, sozusagen? Sanford Biggers dagegen lässt Afroamerikaner in ihrer Arbeitskleidung auf Bäume klettern, um so auf die selbstverständlich immer noch nicht völlig realisierte Gleichberechtigung der Schwarzen hinzuweisen, und Donald Moffett verwischt in seiner „Hippie Shit“ betitelten, schimmrig-silbernen Gemäldeserie mit fingerdickem Farbauftrag die Grenze zwischen „High and Low“ – strenge Abstraktion meets Mundharmonika. Last but not least widmet sich John Miller auf seinen Acrylbildern antiken Indianersiedlungen, protestierenden Afroamerikanern und TV-Gameshow-Irrsinn.

Und dann ist man auch schon durch, durch diese kleine Kunst-Siedlung – und weiß nicht recht, was man damit anfangen soll. Denn trotz einiger wirklich überzeugender Einzelarbeiten krankt die Ausstellung an ihrem Sujet: Man bekommt, was man erwartet. Natürlich, denn es geht um Mythen, die jeder kennt. Und doch wünschte man sich, die Ausstellung hätte sich weniger von der vorgefertigten Strahlkraft ihres Gegenstandes blenden lassen.

Dann hätte sich womöglich – eine Ebene unter den notorischen Bildern – Raum für Kontextualisierungen, Differenzierungen und die Klärung von Funktionsweisen eröffnet. Raum für Fragen nach der ungebremsten und immer wieder überzeugenden Kraft zur Selbstdekonstruktion; zur Erneuerung des Landes im Namen der abstrakten Idee, die die Vereinigten Staaten von Amerika als Platzhalter für Freiheit, Gleichheit und Demokratie sieht. Für Fragen nach dem Zustand des US-Kapitalismus, der eigentlichen Triebfeder der amerikanischen Populärkultur. Und nicht zuletzt für Fragen nach dem Transfer der Mythen in den Rest der Welt: was es – in einer selbstreflexiven Wendung – dann heißt, von Europa aus über amerikanische Folk- und Populärkultur nachzudenken. So aber begegnet man über weite Strecken wieder einmal nur den üblichen bekannten Bilder und ist enttäuscht.

■ Bis 10. Januar 2010, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Oranienstr. 25, tägl. 12–19, Do–Sa bis 20 Uhr