: Das friesische Sodom
Der im Meer versunkene Ort Rungholt bewegt auch noch fast 650 Jahre nach seinem Untergang die Gemüter. Dabei geht es auf den ersten Blick um nicht viel mehr als um einen Haufen alter Münzen, gefunden im Watt vor den Nordfriesischen Inseln
Nur ein Priester und vier Jungfrauen überlebten „de grote Mandränke“, die schlimmste Sturmflut, welche die Nordsee bis dahin gesehen hatte. Mit Mann und Maus begruben die tosenden Fluten den nordfriesischen Ort Rungholt unter Sand und Schlick. Eine Strafe des Herrn für Gott- und Maßlosigkeit, so will es die Legende.
Sagenhaft reich soll Rungholt gewesen sein, eines der prächtigsten Handelszentren seiner Zeit. Seine Bürger hätten sich zudem eines Lebenswandels befleißigt, welcher der Kirche und dem lieben Herrgott keineswegs ein Wohlgefallen war. Seit seinem Untergang im Jahre 1362 geistert der Ort als friesisches Sodom durch den norddeutschen Mythenschatz. Der Untergang war Strafe für eine besonders perfide Gotteslästerung. Einige seiner Bewohner hatten den Priester des Ortes geholt, „damit dieser einem Sterbenden das Abendmahl reiche, der sich freilich als eine betrunken gemachte Sau herausstellte,“ schreibt der Kulturhistoriker Hans Peter Duerr in seinem Buch „Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt“. In der Nacht nach der Verhöhnung des Priesters soll dann der Ort mitsamt seinen gottlosen Bürger in den Fluten ertrunken sein. Seit diesem Tag würde Rungholt auf dem Meeresboden liegen und kurz vor dem jüngsten Gericht in all seiner Pracht wieder emporsteigen.
Die Faszination, die von der vom Herrgott höchstselbst gefluteten Stadt ausgeht, hält sich ungebrochen. Noch immer suchen Hobbyarchäologen und Regionalforscher im Watt nach Überresten des Ortes, über dessen Geschichte wenig gesicherte Erkenntnisse existieren. Einig ist man sich in der Forschung nur über das Jahr des Untergangs. Wo Rungholt genau gelegen hat, ob es sich – wie es der Mythos will – um einen Sündenpfuhl und ein Handelszentrum oder nur um eine von vielen Siedlungen in dem Gebiet zwischen Nordstrand und Pellworm gehandelt hat, ist umstritten.
Hans Peter Duerr glaubt, mit seinem jetzt erschienenen Buch die Rungholtforschung revolutioniert zu haben. 1994 fuhr er mit einer Gruppe von Studenten der Bremer Universität zum ersten Mal aufs Watt und buddelte, was das Zeug hielt. Kaum eine Erkenntnis der etablierten Forschung, die Duerr nun in seinem 800 Seiten starken Wälzer nicht zu widerlegen versucht. Bereits während seiner Exkursionen hat sich der Professor in Ostfriesland wenig Freunde gemacht. Die Landesarchäologen von Schleswig-Holstein sind noch immer schlecht auf den Störenfried zu sprechen, der da elf Jahre lang wiederholt in ihrem Zuständigkeitsbereich gegraben hat: „Der hat uns von Anfang an beschimpft, für den waren wir nur Fischköppe“, erinnert sich der frühere Landesarchäologe Joachim Reichstein. Und selbstverständlich dürfe nicht jeder im Watt graben, wie er gerade möchte, schließlich gäbe es Gesetze. Um die hätte sich Duerr allerdings überhaupt nicht geschert.
Duerr ist überzeugt, dass die interessantesten Erkenntnisse schon immer von begeisterungsfähigen archäologischen Laien zutage gefördert worden seien, die Forschungen der etablierten „grauen Herren der Archäologie“ hingegen seien zumeist zwanghaft seriös und verschnarcht. Aufgrund einer Karte aus dem Jahr 1652 glaubt er, Rungholt hätte wesentlich weiter nördlich gelegen als bisher angenommen. Zudem wiesen Funde von Münzen darauf hin, dass Rungholt tatsächlich eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern und eines der wichtigsten Handelszentren der damaligen Zeit gewesen sei. Alles Quatsch, halten wiederum die offiziellen Stellen dagegen. Die von Duerr verwendete Karte sei unbrauchbar, seine Methoden „pseudowissenschaftlich“ und „hochspekulativ“. Der sagenhafte Reichtum der Siedlung sei „reine Fiktion“.
Auch den realen Hintergrund für den Mythos vom friesischen Sodom meint Duerr ausgemacht zu haben. Im Watt fand er die Überreste einer Kirche, die darauf hindeuteten, dass das Gotteshaus „de grote Mandränke“ schwer beschädigt überstanden hätte. Zudem seien die Friesen des 14. Jahrhunderts äußerst stoisch und kaum zu bekehren gewesen – die Geschichten von der Gottesstrafe mithin ein Versuch der Kirche, den norddeutschen Heiden Mores zu lehren. Dass sich die Christianisierung der Friesen als äußerst schwierig gestaltete, gilt als gesichert. Die Rungholter aber trieben es noch einmal besonders arg: „So meinten denn auch in den Annales Stradenses die Rungholter Zechbrüder kurz vor dem Untergang ihrer Stadt, daß Gott, falls er wirklich in der Oblatenbüchse sitze, ‚mit uns drincken muth‘, worauf sie Bier in die Büchse schütteten“, schreibt Duerr.
Hans Peter Duerr hätte damals das „Rungholtfieber“ gepackt, erzählt Jan Oberg, der als Vermesser auf dem Schlickrutscher an Duerrs Exkursionen teilgenommen hat. Sehr bald fand die Gruppe Überreste eines Hauses, die die These vom Standort Rungholts stützen. Später gab das Watt mehrere gut konservierte Skelette von Rindern und Hausschweinen, eine Feuerstelle inklusive Fischgräten und die besagten Kirchenüberreste frei. „Das man nach all der langwierigen Vorbereitung in dieser Matschwildnis nicht nur ein paar Steine, sondern tatsächlich Tierskelette und Münzen findet, das war schon ein Erlebnis“, erinnert sich Jan Oberg. „Wenn man die dann genauer untersuchte, konnte man zuschauen, wie sich die Kulturgeschichte einer versunkenen Welt zusammensetzt.“ Und Duerr sei bei all den Anfeindungen reichlich gelassen geblieben: „Einmal ist er tatsächlich mit einer Wünschelrute übers Watt gelaufen. Wir haben ihn natürlich alle ausgelacht, aber dann hat die doch tatsächlich an einer Stelle ausgeschlagen, an der wir einen zusammengeklebten Erdbatzen mit Münzen darin gefunden haben“, erzählt Jan Oberg. „Das hat mich amüsiert, dass es Menschen gibt, die in ihrer wunderbaren Nonkonformität mit so etwas selbstironisch rumspielen und es dann auch noch funktioniert.“
Ob Duerrs Buch neuen Schwung in die in letzter Zeit etwas eingeschlafene Rungholtforschung der Landesarchäologen auf Trab bringen wird, bleibt abzuwarten. Was immer aber in Zunkunft noch ausgegraben, katalogisiert und datiert werden wird, dem Mythos von Rungholt können auch Wissenschaft und Archäologie nicht viel anhaben. Der nämlich hält sich wacker. Wie der Volksmund weiß, tönt alle sieben Jahre der Klang der Rungholter Kirchenglocke aus den Tiefen des Watts. Vernehmen könnten das Geläut allerdings nur Sonntagskinder. Und auch wenn einer, sei er nun ausgebildeter Archäologe oder fröhlicher Dilettant, die Glocke ausgrabe: in der nächsten Nacht schon würde sie in ihr Grab im Meer zurückkehren. Mythen sind – wie die Friesen eben auch – zäh und dauerhaft.
Benjamin Moldenhauer
Literatur zu Rungholt: Hans Peter Duerr: Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt. Insel Verlag. ISBN 3-458-17274-2Hans-Herbert Henningsen: Rungholt. Der Weg in die Katastrophe. 2 Bände. Husum Verlag. ISBN 3-88042-853-0