Notate eines zerrissenen Zweiflers

ZEITGESCHICHTE Erstmals werden die Tagebücher des Hamburger Rechtsanwalts Kurt Rosenberg ediert, der 1937 in die USA emigrierte. Sie bezeugen die stetig wachsende Erkenntnis, dass die Nazis kein „Spuk“ sind

Kleine Belege aus der Alltagswelt finden sich neben Abhandlungen über die Masse

Mehr als zehn Jahre hat er kein Tagebuch mehr geschrieben. Hat damit 1920 aufgehört, zwischendurch geheiratet, wird zweimal Vater, hat sich als Jurist etabliert. Wohnsitz: der gediegene Hamburger Stadtteil Winterhude.

Doch dann, 1933 kommen die Nationalsozialisten an die Macht, und der Jude Kurt F. Rosenberg nimmt das Tagebuchschreiben wieder auf. In den jetzt erstmals gesammelt edierten Büchern notiert er, was er aus dem Reich hört und versucht, sich zu orientieren: Was ist an welchen Gerüchten und Nachrichten über Verhaftungen und Misshandlungen jüdischer Bürger wahr, was übertrieben? Wie groß ist die Gefahr? Wer steht zu ihm, welche Chancen hat er, der doch ein angesehener Bürger ist? Und gibt es nicht doch Anzeichen, dass der braune Spuk bald zu Ende sein könnte?

„Von Karl aus Dresden ist ein wundervoll beruhigender Brief eingetroffen, von dem Leitsatz getragen, daß nichts so gut und so schlimm werde, wie man erwarte.“ Es folgt ein Absatz, und dann: „Die Zeitungen unterliegen strengster Zensur. Ich helfe mir ein wenig mit ausländischen Zeitungen.“

Doch die Hoffnung trügt, und Rosenberg muss Woche für Woche feststellen, wie gut das Regime im Sattel sitzt und wie sich nicht nur seine berufliche Situation verschlechtert. Eher selten finden sich allerdings Alltagskommentare zwischen seinen politischen Beobachtungen. Einmal heißt es knapp: „Mein Schwiegervater feiert seinen siebzigsten Geburtstag. Es ist sehr viel Familie beisammen, aber sie ist uninteressant, und ich langweile mich.“ Lieber verfasst er seitenlange Abhandlungen über die „Masse“. Er ringt dann um historische Analogien, um zu verstehen, was um ihn herum passiert: „Ich denke viel über das Wesen des Nationalsozialismus nach.“

Im Sommer 1935 fürchtet er, dass seine Tagebücher in falsche Hände geraten könnten und versteckt sie bei nichtjüdischen Freunden. Erst ein halbes Jahr später wagt er, seine Empfindungen angesichts des Reichsparteitags der NSDAP in Nürnberg vom 15. 9. 1935 aufzuschreiben: Während er sich selbst dazu aufruft, Haltung zu bewahren, geht es seiner Frau schlecht: „Sie wurde von einer bösen Depression erfasst. Ich habe mich schriftlich und nach ihrer Heimkehr persönlich sehr einsetzen müssen, um sie zum Bewusstsein ihres Eigenwertes zurückzuführen.“

Wertvoll sind auch die Zeitungsausrisse, die Rosenberg einst auf die Tagebuchseiten klebte und die nun in Faksimile abgedruckt sind: Mitteilungen, Bekanntmachungen oder scheinbar anlasslose Aufrufe: „Warnung dem Judenliebchen!“ Sie wirken wie Belege aus der realen Alltagswelt, die Rosenberg, offenbar braucht, um sein Ringen zwischen Hoffen und Verzweifeln zu spiegeln.

Immer wieder reist er zudem mit seiner Familie ins Ausland, nach Österreich, in die Schweiz, auch nach Holland, um sich von den Schrecknissen in ihrer Heimat zu erholen.

Zugleich schauen sie sich um: Wo könnten sie leben? 1937 dann reist Rosenberg mit dem Schiff über England in die USA, sondiert auch dort die Chancen, eine berufliche Existenz aufzubauen. Er kommt zurück, fährt noch einmal die Elbe entlang, holt seine Familie nach. Im November 1937 ist das, es wird langsam Zeit. Tagebuch wird er nicht mehr schreiben.  FRANK KEIL

Kurt F. Rosenberg: „Einer, der nicht mehr dazugehört.“ Tagebücher 1933–1937. Buchpräsentation: 23. 1., 18.30 Uhr, Hamburg, Warburg Haus