: Vom Nachhall besessen
KLANGKUNST Das Plattenlabel-Kollektiv Bohemian Drips produziert erlesene Bands, zuletzt die türkische Free-Jazz-Band Marika, in ungewöhnlichen Räumen – mit Schallreflexionen von bis zu 18 Sekunden Dauer
von Franziska Buhre
Klänge sind in unserer Welt untrennbar mit den Räumen verbunden, in denen sie entstehen. Sie werden immer lokalisiert, und zwar durch ein räumliches Gebilde selbst – das menschliche Ohr. Befindet man sich nun in einem Raum, in dem ein Schallereignis mehrere Sekunden lang verklingt, wird der Nachhall schließlich körperlich spürbar. Aber ist dieses Erleben mit einer Aufnahme, etwa der Aufzeichnung von Musik, überhaupt vermittelbar?
Vier junge Wahlberliner haben sich darauf eingeschworen, dem Nachhall die Musik zu geben, die er verdient. Der Name ihres Verbundes, Bohemian Drips, gibt der Produktion begehrenswerter Vinyl-Schallplatten für audiophile HörerInnen eine geheimnisumwobene Losung vor. Kein akustisch eigenartiger Raum bleibt den Bohemian Drips verborgen, kein Nachhall ist ihnen zu lang. Wie oft so unerklärlich bei gelungenen Projekten hat auch hier der Zufall die Geschicke der vier zusammengeführt.
Nikolaus Götz, Alexander Meurer und Fillipp Vingerhoets sind Dauerkunden im Plattenladen „Bebop“ im oberbayerischen Rosenheim, bevor sie ab 2008 nach Berlin ziehen. Götz beschäftigt sich als gelernter Cutter und Videokünstler mit analogen Feedback-Schleifen und VHS Tapes, die beiden anderen studieren Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste. Meurer spielt Synthesizer, Orgel und das persische Hackbrett Santur, Vingerhoets singt und spielt Gitarre.
Als Mitwirkende des Neuköllner Künstlervereins zuhause e. V. mieten sie sich unter der Gokartbahn neben der ehemaligen Kindl-Brauerei einen Probenraum, sie veranstalten Konzerte mit Livebands und anschließenden DJ-Sets, als Duo namens lislbar & wermuth legen sie Schallplatten in Bars und Clubs auf. Im Zugangstunnel zum Eiskeller der ehemaligen Brauerei wollen sie eine Platte aufnehmen, wissen aber noch nicht genau, wie.
Ein Bekannter stellt sie dem norwegischen Toningenieur Lasse Kuhlmann vor, der sich beim Studium in Australien auf Kunstkopf-Aufnahmen spezialisiert hat und gerade nach Berlin gezogen ist. Auf diese Audiotechnologie war Vingerhoets wiederum bei seiner Mitarbeit an der Tribute-CD-Box Conny Plank „Who’s that man? A Tribute to Conny Plank“ bei Grönland Records gestoßen. Der legendäre deutsche Musikproduzent der 70er und frühen 80er Jahre hatte immer wieder mit Kunstkopf-Aufnahmen experimentiert. Die Kopfnachbildung enthält ein Mikrofon und Ohrmuscheln, dadurch fängt sie den Klang räumlich ein.
Die Bohemian Drips nennen das Verfahren Binaural Audio mit 3-D-Kunstkopf, denn der ist für den Raumklang mehr als Stereofonie. Besonders über Kopfhörer vermittelt die Aufnahme den Eindruck, man befände sich unmittelbar am Ort der Klangerzeugung. „In einem Raum, der dir auf alles, was du tust, unmittelbar eine Antwort gibt, überlegst du dir ganz genau, was du spielst,“ sagt Fillipp Vingerhoets über die Faszination des Nachhalls. „Wir verstehen Musik als Erfahrung. In den Nachhall haben wir uns verliebt, weil er eine direkte Rückwirkung auf das musikalische Schaffen auslöst.“
Diese Liebe manifestiert sich bei Meurer sogar in einer wissenschaftlichen Arbeit über die Archäologie des Raumklangs. In seinem Studium an der UdK fokussiert er derzeit ganz auf die noch junge Wissenschaft der Archäoakustik, die sich mit der akustischen Interaktion des Menschen mit dem Raum an archäologischen Orten befasst. Der erwähnte Tunnel ist auf der ersten LP der Bohemian Drips nichts weniger als ein „Zuhause im Weltall“, in dem die HörerInnen mit vier Ensembles und zwei Solisten schweben, einer von ihnen ist Jochen Arbeit, Gitarrist der Einstürzenden Neubauten.
Für die zweite LP, die kommenden Freitag veröffentlicht wird, haben die Drips die türkische Free-Jazz-Band Marika ins Sudhaus der ehemaligen Kindl-Brauerei gebeten. Dort hat das Trio mit dem Saxofonisten Korhan Futaci, Barlas Tan Özemik am Bass und dem Schlagzeuger Berke Can Özcan nicht nur zwischen den sechs riesigen Kupferkessel aufgenommen, sondern auch in einem Kessel – mit einem Nachhall von fünf Sekunden. Welche Rollen ein Wolf und ein Schaf dabei spielen, findet heraus, wer das Vinyl-Gesamtkunstwerk in den Händen hält. Die eigenwillig rätselhafte, visuelle Identität des Labels kreiert ebenfalls Meurer, die begleitenden Videos von Götz werden in Zukunft ein eigenständiges Format sein.
Von den kommenden Produktionen sei nur so viel verraten: In einem Raum mit 18 Sekunden Nachhall erklingen Kesselpauken, Xylofone, zweieinhalb Meter lange Orgelpfeifen aus Holz und Fahrradklingeln, die darauf folgende Platte wird eine Musikerin mit Streichinstrumenten und Soundinstallationen aufnehmen.
Various Artists: „Zuhause im Weltall“; Marika: „Marika“ (beide Bohemian Drips/Broken Silence)
Record Release am 7. August mit Marika und Sicker Man; Bei Ruth, 20 Uhr
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