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Archiv-Artikel

Im Gewirr der Erinnerungsfäden

LITERATUR Chaos im Gedächtnis: Die Deutsch-Kroatin Marica Bodrožić gilt als sprachgewandte Autorin mit viel Feinsinn. Ihren neuen Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ stellt sie nun in im Rahmen der LiteraTour Nord in Norddeutschland vor

Arjetas Erzählung besteht aus einer Vielzahl winziger Wirklichkeitssplitter

VON JENS LALOIRE

Über die Nachrichten erfahren wir fast täglich von Menschen, die der Krieg aus ihrer Heimat vertrieben hat. Ob aktuell in Syrien, Mali oder in den Neunzigerjahren im ehemaligen Jugoslawien – immer wieder fliehen Menschen ins Exil, um dem Krieg zu entkommen. Auch Arjeta Filipo ist eine Heimatlose. Zwar hatte sie sich bereits vor dem Ausbruch des Krieges in ihrer dalmatischen Heimat für ein Studium in Paris entschieden, doch der Krieg lässt sie zu einer Exilantin wider Willen werden. Während sie Philosophie studiert, Milchkaffee schlürft und sich auf eine Affäre mit einem Maler einlässt, muss ihre Familie in der belagerten Heimatstadt ausharren. „Meine Mutter und mein Vater sind in der Stadt geblieben. Keller. Ängste. Granaten. Hunger. Feuer. Flammen. Überall Flammen. Fensterlose Häuser. Ich hingegen darf in Paris spazieren gehen (…) Ich esse Croissants. Sie schmecken gut. Ich kann sie nicht mit Mutter und Vater teilen.“

Arjeta ist die Protagonistin in „Kirschholz und alte Gefühle“, dem neuen Roman der deutsch-kroatischen Schriftstellerin Marica Bodrožić. Sowohl das Aufwachsen in Dalmatien als auch das Leben in der Fremde teilt Bodroži mit der Hauptfigur ihres Romans. Sie wurde 1973 im ehemaligen Jugoslawien geboren und lebte bis zum zehnten Lebensjahr mit ihrem Großvater in dem Dorf Svib nahe der kroatischen Küstenstadt Split. 1983 siedelte sie nach Hessen um, besuchte dort die Schule und lernte die deutsche Sprache, in der sie ihre Gedichte, Erzählungen, Essays und Romane schreibt.

Ihr 2010 erschienener Roman „Das Gedächtnis der Libellen“ bildete den Auftakt einer Trilogie. „Kirschholz“ ist nun der zweite Teil, der jedoch ganz losgelöst vom ersten gelesen werden kann. Arjeta Filipo tritt uns hier als Icherzählerin gegenüber. In ihrer frisch bezogenen Dachgeschosswohnung in Berlin-Charlottenburg beugt sie sich über den massiven Kirschholztisch ihrer Großmutter und wühlt in einem Stapel Fotos. Das Chaos der Fotos auf dem Tisch entspricht dem Chaos ihres Gedächtnisses – und ebenso chaotisch assoziativ erzählt Arjeta ihre Geschichte. Sie folgt dabei keiner Chronologie, sondern springt hin und her zwischen Ereignissen ihrer Kindheit und Erlebnissen in Paris oder Berlin.

Arjetas Erzählung besteht aus einer Vielzahl winziger Wirklichkeitssplitter, die sich allmählich zu einem Mosaik zusammenfügen. Die assoziative, lückenhafte Erzählform ist ein angemessener Ausdruck für die sprunghafte wie unvollkommene Art des Erinnerns. Auch der Sprachstil unterstützt das Mäandernde des Erinnerungsstroms und variiert zwischen mal poetisch hingegossenen, mal knappen Sätzen, die wie Hammerschläge in die Gedankenfäden knallen.

Arjeta erzählt von ihrem Onkel Milan, der antifaschistische Denkmäler baute und schließlich wegen einer russischen Zeitung mit seiner Frau Sofia nach Paris fliehen musste; sie blickt zurück auf ihre unglückliche Liebesbeziehung mit dem Maler Arik und auf die gemeinsame Zeit mit ihren Freundinnen Hiromi und Nadeshda in Paris. Während sie ihre Vergangenheit betrachtet, begreift Arjeta, dass sie ihrem eigentlichen Leben stets ausgewichen ist, indem sie sich ein ideales erträumt hat. So steht gegen Ende des Romans die entscheidende Frage im Raum, ob man als Mensch nicht allzu häufig das Hier und Jetzt vorbeiziehen lässt, weil man auf ein anderes, ein besseres Leben hofft: „Welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes ersehnen?“

■ Oldenburg: So, 27. 1., 11 Uhr, Musik- und Literaturhaus Wilhelm13, Wilhelmstraße 13; Bremen: So, 27. 1., 20 Uhr, Literaturcafé Ambiente, Osterdeich 69a; Lübeck: Mo, 28. 1., 20 Uhr, Buddenbrookhaus, Mengstraße 4; Lüneburg: Mi, 30. 1., 20 Uhr, Heinrich-Heine-Haus, Am Ochsenmarkt 1; Hannover: Do, 31. 1., 19.30 Uhr, Literaturhaus, Sophienstraße 2