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Archiv-Artikel

Was passiert da in Paris?

Sind die Vorstadtjungs von Paris nur Krawall-Macher oder echte Rebellen? Ist ihr Aufstand schockierend – oder ein Spiegel der französischen Gesellschaft? Drei Blicke auf die Protagonisten, die Profiteure und die nur scheinbar unbeteiligten Zuschauer der Gewalt in Frankreich

Die Beleidigten proben den Aufstand – und kämpfen sich hoch

Diese Beleidigung war die eine zu viel: „Durchkärchern“ wollte der französische Innenminister Nicolas Sarkozy die Banlieues, um sie vom faulen Pöbel zu säubern. Kärchern: ein französisches Wort, das als Verb einem deutschen Hochdruckreinigungsgerät entlehnt ist – und die Fantasie in sich trägt und sie beim Publikum ja auch bedient, etwas, irgendetwas, könne mit Hilfe eines Dampfstrahls in den Zustand der freundlichen Unschuld zurückgebracht werden.

Beleidigen, gekränkt werden, missachten und abtun: das sind die psychischen Aggregatzustände, aus denen sich durch die Bank gesellschaftliche Proteste gespeist haben – nicht materielle Nöte. Der moralische Fluss der Arbeiterbewegung, wie jeder anderen Bewegung, speist sich nicht aus der Quelle geldlicher Defizienz, sondern aus der Anmutung des Adels, später der bürgerlichen Klasse, den Pöbel, die Pauper, die niederen Stände von den Voraussetzungen des eigenen Wohlergehens, quasi biologisch, auszuschließen: Ihr seid ein gutes Leben nicht wert. Die Rebellionen in Frankreich leben von diesem Umstand. Sarkozys Worte sagten auch dies: Ihr sollt nicht teilhaben.

Und wie in der Arbeiterbewegung sind es die Jungen, die den Aufstand proben: stellvertretend für ihre Väter, die die Kraft nicht haben – und die sie beerben, weil sie sonst nur verachten können. Sie hatten es probiert – und wurden doch, Sarkozys Verdikt war kristallklar, an die Katzentische der bürgerlichen Urbanität gedrängt: die Banlieues als Universen, allenfalls randständig.

Dass es die Jugendlichen sind, ist historisch ohnehin beispielgesättigt. Immer sind es die Nicht-mehr-Kinder und Noch-nicht-Erwachsenen: generationelle Träger, die nicht mehr mit Matchboxautos spielen wollen, aber noch kein Geld für die echt coolen Schlitten haben. Jugendlichkeit ist die Chance auf Grenzüberschreitung, und jeder weiß um ihren Kick: egal, ob Autos in Brand gesetzt werden, ob man vorsätzlich einen Befehl verweigert – oder ob ein Brunnen auf dem Marktplatz mit Waschpulver, versetzt mit Farbpartikeln, zum Schäumen in Cinemascope gebracht wird. Was gefällt, ist davon abhängig, was die Alten inakzeptabel finden.

Verboten! heißt das Siegel, und das gefällt den um Aufmerksamkeit buhlenden Jungmännern sehr. Jedes Zeichen von sogenannten „Schmierern“ an Hauswänden ist eine individuelle Meldung – die formuliert werden muss, da und nirgends sonst, um die Ansprüche auf Gelesenwerden anzumelden – da man doch sonst nix zu melden hat.

Jugend erobert sich die Welt, indem sie sich gegen sie stellt: als Kritik am patriarchalen System, als Aufstand gegen die Väter, um sie als „bessere“ Väter zu ersetzen. Und sei es, ungeübt am Leben, in Form des Hasses, des Ausschlusses und der rücksichtslosen Wut. Das können sich die Alten nicht gefallen lassen: Aus diesen (einschließenden) Kämpfen heraus schließlich erwächst Neues, jene Differenz, die eine bürgerliche Gesellschaft in sich zu integrieren weiß.

Hübsch kann schon jetzt die Pointe angedeutet werden: Das, was in Clichy-sous-Bois und anderswo als Flammenschrift in die Welt gesetzt wird, funktioniert dort. In jenen Ländern, aus denen die Einwandererfamilien stammen, wäre dies ganz und gar unmöglich: Man würde es nicht einmal wagen – in Kulturen, die das väterliche Gesetz nicht ödipal zu lösen vorsehen. Die Aufstände von Frankreich sind medial ins Bild gesetzte Eintrittskarten in die bürgerliche Gesellschaft – dass sie selbst formuliert wurden, ohne die Erwachsenen zu fragen, kann ein Einwandererkind wie Nicolas Sarkozy gewiss verstehen. Die Beleidigung des Innenministers wird Früchte tragen: Der Pöbel ist auf dem Weg in seine Institutionen. JAN FEDDERSEN

Die Rapper klagen an – doch das ist nur eine Pose

„Frankreich ist eine Schlampe, vergiss nicht, sie zu ficken, bis sie erschöpft ist. Man muss sie wie eine Hure behandeln, Mann. Ich richte mich an meine Brüder, die am Existenzminimum leben. Wir dürfen uns nicht weiter entwickeln, weil wir schwarz sind“ – so rappt Monieur R alias Richard Makela auf seiner im März erschienen Platte „Politiquement Incorrect“, woraufhin er von der regierenden UMP verklagt wurde. Der gebürtige Belgier mit kongolesischen Wurzeln, aufgewachsen in der just in Flammen stehenden Pariser Banlieue, hat somit erreicht, was er wollte: Aufmerksamkeit. Plattenverträge. Macht, Geld und Sex – willkommen in der westlichen Welt.

Er hat sich selbst geholfen, aber seinen „Brüdern“ aus den Vorstädten, ganz zu schwiegen von seinen mehr durch ihn als durch den angeblich faschistischen Staat unterdrückten Schwestern, hilft er damit nicht. Während seine Musik authentizitätsverpuffend in den Kreislauf des kommerziellen Kulturbetriebs integriert wird, bleiben den gestressen Brüdern in Clichy-sous-Bois nur ein paar Reime, die denkbar ungeeignet sind, etwas aus ihrem Leben zu machen.

Auf dicke Hosen machen und gleichzeitig in verheultem Selbstmitleid zerfließen. Vor lauter Angst auf alles eindreschen, was vermeintlich noch schwächer oder minderwertiger ist: Frauen, Schwule, Juden – alles Schlampen und Opfer, die wahlweise in den Arsch gefickt (Sido) oder vergast werden müssen (Bushido). Musik in den Ohren verwöhnter Mittelstandskids, die damit vorübergehend ihre Eltern und Lehrer provozieren. Später dann machen sie Abitur, heiraten eine nette Frau und schließen einen Bausparvertrag ab – und schwelgen bei schweren Rotweinen in Erinnerungen an ihre wilden Jahre.

Nicht jeder Jugendliche in der Pariser Banlieue hat die Chance, einen Plattenvertrag zu bekommen. Ihre Chance besteht vielmehr darin, die breiten Boulevards, die sie von Paris Centre-Ville mit seinem glitzernden Wohlstand trennen, zu überqueren, und sich dort einmal umzuschauen. Sie werden feststellen, dass es dort mehrheitlich Frauen gibt, die keineswegs wie Schlampen behandelt werden wollen, sondern ihrem Beruf nachgehen, Schwule, die sich längst aus ihrem Refugium Marais herausgewagt haben und in der Mitte der Gesellschaft leben.

Sich weiterentwickeln bedeutet eben auch, eigene Positionen zu hinterfragen und nötigenfalls über Bord zu werfen, inklusive angeblich weiser Ratschläge greiser Imame und pseudopotenter Posen angeschwollener Rapper. In Deutschland wie in Frankreich ist die Mehrheitsgesellschaft aufgefordert, diesen Neugierigen die Hand zu reichen, anstatt durch Plattenkäufe vordergründig zu fraternisieren.

Die Herren Rapper und ihre Fans sind aufgefordert, ihre ohnehin bereits auf Halbmast hängenden Hosen runterzulassen: Zeigt mal, was ihr wirklich habt und könnt. Vielleicht geht Frankreich dann freiwillig vor euch auf die Knie. MARTIN REICHERT

Die Bürger sind schockiert – dabei ist die Gewalt längst Ritual

Sind es die Feuerbälle, wenn Autos auf den Straßen zu Wracks abfackeln? Die Vermummten, die einer Mauer von kampfuniformierten Polizisten gegenüberstehen? Oder doch die brennenden Schulen? Welche der nun schon seit 11 Tagen in heavy rotation gesendeten Bilder der Krawalle in Frankreichs Städten haben das schockierende Potenzial, von dem so schnell die Rede war? Das die Regierung zur Legitimation eines Durchgreifens „in aller Härte“ interpretiert?

Tatsächlich irritierend ist keines der Bilder. Ihr Inhalt ebenso wie der Alarmismus, den sie auslösen, sind längst ritualisiert. Ihre Bedeutung liegt weniger im Schock, sondern in der Weiterführung einer Erzählung, über die sich die französische – westlich zivilisierte – Gesellschaft seit Jahrzehnten konstituiert.

Spätestens seit 1995, als der Regisseur Mathieu Kassovitz mit seinem „Cannes“-prämierten Film „Hass“ 24 Stunden aus dem Leben dreier Einwanderer-Jungs aus der Pariser Vorstadtsiedlung „Cité des Muguets“ erzählt hat, sind die Bilder von Straßenschlachten in den Banlieues sogar ästhetisiert in den Diskurs eingegangen. Nichts anderes als unsinnig sind deshalb auch jene Kommentare, die in den aktuellen Krawallen den Film wirklich geworden sehen. Vielmehr wird die scheinbar so ziellose und politisch unmotivierte Gewalt in eine soziale Erzählung eingewoben. Die Filmbilder spiegeln, ebenso wie die aktuellen Bilder der Krawalle, die Strukturlogik der Gesellschaft. Im Unterschied etwa zur bundesdeutschen benötigt die französische die ausgestellte Differenz, um im Kern den gemeinsamen Entwurf der stolzen „Nation“ zu leben. Ein Prolet wie Gerhard Schröder als Präsident? Unvorstellbar.

Nirgendwo sonst in Europa spiegelt sich, wenig verwunderlich, dieses Prinzip in der Besiedelung, in der Differenz zwischen zwischen Stadtzentrum und Peripherie. Dass daraus gesellschaftliches Konfliktpotenzial entstanden ist, dass Differenz nicht mehr nur identitär, sondern bedrohlich ausgestellt wird, ist eine Botschaft der aktuellen Bilder. Seit Mitte der 90er-Jahre sprechen sowohl Politiker als auch Soziologen von „Ghettos“, nicht mehr von Vorstädten. Die Banlieues, einst Arbeitersiedlungen, sind seither einer Exklusion unterworfen, die über den sozialen Regelfall hinausgeht. Nicht räumliche Ausgrenzung alleine, sondern die Viktimisierung der Bewohner dient letztlich dazu, Arbeitslosigkeit und Armut als Problem der „Überflüssigen“ (Heinz Bude) zu denken statt als Strukturlogik der Gesellschaft.

Die randalierenden Jungs in den Trabantenstädten, die sich mittlerweile – und das ist durchaus neu – frankreichweit solidarisieren, sind eben keine Subkultur, die nach ihren Regeln in einem „rechtsfreien Raum“ (Innenminister Sarkozy) der Banlieues leben. Sie sind Teil der Kultur, sie sind sichtbar und stellen gerade in den eruptiven Gewaltexzessen ihre Sichtbarkeit aus – am Wochenende zum ersten Mal sogar im Zentrum von Paris. Die Konstruktion eines „rechtsfreien“ Raumes spiegelt dabei weniger die Realität – die Rebellen bewegen sich schließlich, wie die Festnahmen zeigen, im französischen Rechtsraum –, sondern dient dem Stärkeren, dem Staat.

„Jusqu’ici tout va bien …!“, lautete Kassovitz’ Leitfaden (und Kommentar zur Gesellschaft, wie er interpretiert wurde), „bis hierher ging alles gut“. Jetzt ist die Mehrheitsgesellschaft am Zug. SUSANNE LANG