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Archiv-Artikel

Zeitbombe vernachlässigte Kinder

Nach Wilhelmsburger Fall: SPD-Opposition fordert sofortige Überprüfung aller Altfälle durch die Jugendämter. Sozialsenatorin Schnieber-Jastram freut sich zwar über „richtige Anregung“, weist Vorwurf der Untätigkeit aber zurück

von Kaija Kutter

Der Fall der beiden vernachlässigten Kinder Bianca (4) und Brian (2) setzte Sozialsenatorin Birgit-Schnieber-Jastram gestern erneut unter Druck. Die Opposition warf ihr Untätigkeit vor und erklärte sie zum „Risiko für die Kinder der Stadt“. Die CDU-Politikerin trat am späten Nachmittag „Spekulationen“ entgegen, wonach die Zustände hätten bekannt sein müssen. Ende vergangener Woche waren die Geschwister in einer völlig verdreckten Wohnung in Wilhelmsburg zufällig von der Polizei entdeckt worden.

Sie habe die Bezirke um Berichte geben und noch „kein vollständiges Bild“, sagte Schnieber-Jastram gestern. Aus dem bislang Vorliegenden ergäben sich aber „keine Hinweise“, aus denen man das „jetzige Geschehen hätte vorhersehen können“. So gab es über die Kinder Akten bei den Jugendämtern Mitte und Wandsbek, weil die Vaterschaft geklärt werden musste. Zudem habe es für die Mutter in ihrer Jugend eine „Hilfe zur Erziehung“ und eine Gerichtseintragung gegeben.

Wie Sorina Weiland vom Bezirksamt Mitte der taz berichtete, hatte das dortige Jugendamt die 17-jährige Mutter nach der Geburt aufgesucht. Da diese mit dem Baby bei der Oma wohnte, schien „nichts dagegen zu sprechen, dass das Kind da bleibt“. Allerdings zog die junge Familie nach taz-Informationen bald in eine Bergedorfer Wohnunterkunft, wo sie bis Mai 2003 gemeldet war und Sozialhilfe bezog. Ab Juni 2003 war die Familie in Wandsbek gemeldet. Als im August der Sohn zu Welt kam, habe das Wandsbeker Jugendamt der Mutter einen „Standdardbrief“ zur Vaterschaftsanerkennung geschickt, berichtet Sozialdezernent Volker de Vries. „Beide Eltern wollten sich um das Kind kümmern. Damit war das für uns erledigt“.

Die CDU-Senatorin versprach, sie werde „weiter prüfen, ob man hätte intervenieren können“, und dies am Freitag dem Sonderausschuss Jessica berichten. Den beiden Kindern gehe es in ihrer neuen Umgebung gut. Das Mädchen, so berichtet Jugendamtsleiter Uwe Riez, habe drei Tage vor ihrer Entdeckung sogar noch die Vorschule besucht.

Auch die diskutierte Stellenausstattung der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) habe „keine Rolle gespielt“. Bei den dortigen Wartelisten, so Riez, handele es sich um Fälle, wo „kein akuter Handlungsbedarf besteht“.

Das sieht die Opposition ganz anders. Die GAL will heute auf neue Probleme hinweisen und einen Antrag zu den ASD vorstellen, den die SPD unterstützt. „Wir müssen bewerten, ob Schnieber-Jastram ein Sicherheitsrisiko ist“, erklärte der SPD-Abgeordnete Dirk Kienscherf. Die Sozialsenatorin habe es versäumt, gleich nach Jessicas Tod im März sicherzustellen, dass „kein Kind durch Umzüge verloren geht“, ergänzte Fraktionskollegin Britta Ernst. Die verhungerte Jessica war als Säugling im Jugendamt Mitte bekannt, bevor sich ihre Spur durch einen Umzug verlor.

Laut Ernst hätten deshalb unmittelbar im März alle Altfälle der Jugendämter nach eventuellen Umzügen überprüft werden müssen. Man wisse aus den Beratungen im Sonderausschuss Jessica, dass es eine „Risikogruppe“ von Eltern gibt, bei der Vernachlässigung häufiger vorkomme und die sich durch häufige Umzüge Eingriffen entziehe. Dazu gehörten sehr junge Mütter.

Kienscherf fordert nun, dass die Sozialbehörde wenigstens jetzt alle Altfälle bis ins Jahr 2000 auf eventuelle Umzüge hin überprüft. Möglich sei dies, weil es bei jeder Anmeldung automatisch eine Abmeldung im alten Bezirk gibt. Die Meldeämter müssten diese Daten an ihre Jugendämter weiter geben. Dabei sollte besonderes Augenmerk auf Risikogruppen gelegt werden, die sich nach einer Kontaktaufnahme nicht wieder gemeldet haben. Kienscherf: „Wenn dann der Kontakt nicht gelingt, sollten die Alarmglocken läuten.“

Doch so ein Abgleich ist, so ist aus den Bezirken zu hören, bei derzeitiger Personallage kaum zu leisten. Schnieber-Jastram nannte die SPD-Forderung denn auch eine „richtige Anregung“. Anweisen wird sie dies aber nicht: „Ich gehe davon aus, dass die Bezirke dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun“.