Monster der Wirklichkeit

Esther Dischereits „Großgesichtiges Kind“ stellt sich gegen jede Strategie der Beschwichtigung

Der Engel der Erinnerung trägt ein rosafarbenes Kleid. Er hat lockiges Haar, und weil er klein ist, schafft er es „gerade so“, über die Balustrade nach unten zu blicken. Er sieht, wie dort vier Polizisten einen Mann zu Boden drücken, mit ihm kämpfen wie „mit einem wilden Tier“. Derart sind sie mit dem Bändigen und Bezwingen beschäftigt, dass sie das Kind im rosa Kleid gar nicht bemerken. Das Kind läuft die Treppen hinab. Es verschwindet wie ein Geist, taucht im nächsten Absatz aber gleich wieder auf.

Es ist schließlich sein Text, sein Territorium. Mag das Land, zu dem die Szene gehört, auch den Männern auf dem Steinfußboden folgen. Die Erzählung tut es nicht. Sie ist frei, sich zu erinnern, unbeugsam und hochbeweglich wie das „Großgesichtige Kind“, in dessen Gegenwart sich die Wahrnehmung von allen Herrschaftsdiskursen löst.

Diese souveräne Präsenz ist unbedingt typisch für das Schreiben Esther Dischereits. Der Leser kann nicht anders, als die Worte und Sätze lange anzuschauen. Auch hier. Ein Blickkontakt stellt sich her. Ähnlich wie mit einer kostbar genau gemalten Miniatur. Je länger man hinsieht, desto abgründiger werden die Details, desto vielsagender das Gesehene, Erlebte, Empfundene. Man glaubt manchmal zu frieren bei der Lektüre, spürt eine Traurigkeit, die man sofort verschlucken muss, bevor sie einen würgt.

Das Wort „ich“ kommt nicht vor. Das Kind erscheint in der dritten Person Singular. Es wechselt – wir lesen einen Erinnerungstext – sprunghaft Alter und Gestalt. Als krebskranke Frau zeigt es sich, als junge Mutter, als Geliebte, als großgesichtiges Kind an der Balustrade.

Dieses Mädchen lebt auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik. Der Vater, der „in Österreich studiert hat und ganz sicher einen arischen Stammbaum hat“, ist dort Arzt. Es sind die 50er Jahre. Die Mutter, eine Jüdin, hat das Konzentrationslager überlebt. Von dem Geld, das der Staat ihr als „Wiedergutmachungsleistung“ gewährte, kauft die Familie einen VW Käfer. Darin macht man Sonntagsausflüge an den Neckar. Man kehrt ein und isst ein Schnitzel, das das Kind auf der Rückfahrt wieder auskotzt.

Die Mutter trennt sich

„Ich kann dich anzeigen“, hört das Kind die Mutter eines Nachts dem Vater sagen. „Bei wem denn?“, höhnt der Vater und winkt der Mutter mit „einem Brief Globkes“. Wo ein Verfasser und Kommentator der „Nürnberger Rassengesetze“ die rechte Hand des Kanzlers Adenauer ist, stehen die Chancen auf Gerechtigkeit schlecht.

Die Mutter trennt sich. Sie und die Tochter bleiben Fremde. Unabhängig davon, dass die Tochter nur „ein paar Dörfer weit von hier, ein paar Stunden weit weg, also ganz nah“ geboren ist.

Diese Bemerkung über die Koordinaten der Erinnerung macht das krebskranke Kind, also die junge Frau, gleich zu Beginn einem Oberarzt gegenüber. Der hat, ein Jahr jünger, im Leben noch keinen deutschen Juden gesehen. Sie sei etwas ganz Besonderes, sagt er ungeniert, als müsste seine Patientin geschmeichelt sein. „Ja, sagt sie, hurra, wir sind nicht tot.“

Jeder Kontakt misslingt und wird zu einem weiteren Grund der Einsamkeit. Das Kind hat den Arzt nicht nach seinen Gefühlen beim Anblick einer Jüdin gefragt. Auch die anderen Leute wird es nicht um ihre Zudringlichkeiten bitten. Sie sind es, die nicht aufhören können, das Kind zu kränken, zu beleidigen, ihm nachzustellen.

Im Gehege der Psychiatrie

Irgendwann wird das Kind deshalb denken, dass es „auch sein Gutes“ gehabt habe, im „Gehege“ der Psychiatrie aufgewachsen zu sein und „andere Kinder und deren Familien nicht zu treffen“. Viel früher wäre es anstatt den Verrückten der Psychiatrie den Monstern der Wirklichkeit begegnet. Es hätte früher die auf Häkeldeckchen ausgestellten Fotos von SS-Offizieren abstauben müssen und wäre Leuten wie dem Vater eines Gewerkschaftskollegen eher gegenüber gesessen, der „mit Fackeln vor die Synagoge“ gezogen war und nun glaubte, dem Kind ausrichten lassen zu müssen, dass es einen guten Eindruck auf ihn gemacht habe. Auch die neue Frau des Vaters hätte es nicht abwarten können, dem Kind zu sagen, dass der Vater die jüdische Mutter doch bloß genommen habe, weil die wegen des KZ nach dem Krieg „alles gehabt“ habe.

Mit solchen Ungeheuerlichkeiten zielt man in der Bundesrepublik auf das Kind. Ekelhaft und unverdaulich ist die Atmosphäre der Lüge. Eine Vertraute der Mutter, die Frau des Gastwirts, nimmt sich im Neckar das Leben. Am Ende steht der Engel der Erinnerung fragend an diesem Fluss. Er blinzelt nicht und wischt sich, während er die Spuren der Verletzungen nachzeichnet, keine Träne aus dem schönen Gesicht.

Elisabeth Wagner

Esther Dischereit: „Großgesichtiges Kind. The Child with the big face“. De Gryter, Berlin u. a. 2015, 136 S., 24,95 Euro