: Der Charme der Gesten
TANZTHEATER Um Chaplin, um seinen Vater und um eine dörfliche Vergangenheit geht es im neuen Stück von Kadir „Amigo“ Memis. Und um das Universelle in der Erfahrung der Fremdheit. Im Hebbel am Ufer ist es zu sehen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Mit jeder Runde, die er durch den Park des Viktoriaparks läuft, freut sich Kadir „Amigo“ Memis wieder auf den Moment, wenn er die Ziegen des Kinderzoos zu riechen beginnt. „Das flasht mich jedes Mal und bringt mir das Dorf meiner Kindheit zurück“, sagt der schlanke, zierliche Mann.
Amigo und das Dorf, das will so gar nicht zueinander passen. Denn er ist der Mann, der in Berlin die Tanzcrew Flying Steps Anfang der 90er zu einer großen Breakdance-Nummer machte. Und der die Funkin’ Styles, eines der größten HipHop-Battles in Deutschland, ins Leben rief. Der mit der Dance-Unity eine Plattform für internationalen Austausch zwischen den Urban Dance-Stilen schuf. Der 38-Jährige ist Städter, durch und durch.
Amigos aktuelles Stück aber, das Tanztheaterstück, „Scha’irlie – This is not a Chaplin“, erzählt auch die Geschichte seines dörflichen Hintergrundes. Und es handelt von der Biografie seines Vaters und seiner eigenen Chaplinbegeisterung. Dessen Filme hat Amigo als Kind gesehen. Beides, die Biografie seines Vaters und die Vorliebe für den Schauspieler, hat mit Gesten zu tun.
Amigo erzählt von dem türkischen Dorf, das er mit zehn Jahren verließ, um zu seiner Familie nach Berlin zu ziehen. Und von seinem Vater, dem Einwanderer. Jahrelang habe er sich geärgert, dass sein Vater so wenig sprach, Deutsch schon gar nicht, erzählt Amigo, bis er erkennen konnte, dass sein Vater eine eigene Sprache der Gesten entwickelt hatte.
Der Sohn, der nun in einem türkischen Esslokal im Wedding sitzt und erzählt, legt dabei immer wieder den Suppenlöffel weg und tanzt selbst mit den Händen, zur Erklärung seiner Worte. „Das hat so einen großen Charme“, sagt er und meint damit seinen Vater.
Der Slapstick und die Beseelung von Objekten sind wichtige Elemente des Stücks, das Amigo mit drei weiteren Tänzern in den Uferhallen im Wedding probt. Ein Schuh ist zum Beispiel solch ein wichtiges Ding: Da schwingt mit, dass einen Schuh nach jemandem zu werfen in der türkischen Kultur bedeuten kann, jemand seiner Würde zu berauben – und das wiederum knüpft an die Erfahrungen der Einwanderer an. Aber kennt man hier die Bedeutung des Bildes? Diese Skepsis in das Deutbare, damit muss er sich in seinem Stück ständig auseinandersetzen.
Amigo schiebt seine Suppentasse beiseite und öffnet den Laptop. Er zeigt mir ein Bild von René Magritte, „Der Schlüssel der Träume“. Sechs Gegenstände sind abgebildet, darunter ein Hut, ein Ei, ein Schuh – und mit Begriffen unterschrieben, die etwas anderes bezeichnen, wie den Mond oder Schnee. „Das Bild enthält das ganze Stück“, sagt Amigo. Es hat ihm Türen geöffnet, die Erfahrung von Fremdheit zu reflektieren. Die Dinge selbst und ihr Bild sind nicht eins und nicht das Wort und seine Bedeutung.
Alles ist Vereinbarung. Und die kennt man oft nicht in der Fremde. Es sei das Universelle in der Erfahrung der Fremdheit, das er in seinem Stück bearbeiten möchte, sagt er. Das klingt so versöhnlich, denke ich und wundere mich laut, ob denn in seiner Geschichte seines Vaters die Erfahrung von Zurücksetzung und mangelnder Anerkennung als Arbeitsmigrant keine Rolle spiele. Doch, doch, sagt er, auch das habe eine Rolle gespielt. Rassismus und Diskriminierung sei immer da. Daraus sei ja der HipHop und all die Tanzkulturen, in denen er sich als Tänzer, Choreograf, Lehrer und Vermittler seit jeher bewegt, hervorgegangen.
Er versucht mir am Tisch etwas über den basalen Style des Urban Dance zu vermitteln. Beim letzten Funkin-Styles-Festival, Dezember 2012 im Tempodrom, war als Richter Tony Gogo eingeladen, einer der Pioniere des Locking. Für Amigo war das eine gute Gelegenheit zum Austausch – Locking, der HipHop-Tanzstil, ist wichtig für sein neues Stück. Sein Chaplinstück hat darüber hinaus eine Nähe zum Humorigen, zu Cartoonfiguren, zum Slapstick. Amigo erzählt von einem Tänzer, der berühmt wurde, weil er ungeschickt war, bis er lernte, aus dem Misslingen seine Pointen zu bauen. Da ist wieder die Brücke zu Chaplin und zu seinem eigenem Stück.
Es ist die dritte Arbeit von Amigo als Regisseur – und ein Stück aus 16 Szenen aufzubauen, ist eine neue Herausforderung für ihn. „Ich lerne jeden Tag etwas dazu“, sagt er. Und ich lerne im Gespräch mit Amigo ständig eine neue Seite von ihm kennen. Am Ende des Gesprächs blättert er in einem Skizzenbuch, voll mit wirbelnden, zierlichen Tuschzeichnungen. Jede Linie ist eine Bewegung, man glaubt, den Tänzer in jedem Strich zu spüren. Da ist erst die kleine Pirouette, aus der eine blasse Linie mit großem Schwung herausfährt und, immer schwärzer werdend, schließlich die Silhouette von Chaplin umrissen hat. Andere Zeichnungen verbinden Kalligrafie und Graffiti. Mit Tusche und Pinsel jedenfalls gelingt Kadir „Amigo“ Memis die Verbindung all der Quellen, aus denen er schöpft, ungeheuer leicht.
■ „Scha’irlie – This is not a Chaplin“, HAU 2, Hallesches Ufer 32, bis 27. Januar, Fr + Sa 20 Uhr, So 19.30 Uhr. www.hebbel-am-ufer.de