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Archiv-Artikel

„Nicht irgendwo, sondern hier!“

LEHRE Stolpersteine sind besser als die Pädagogik der Betroffenheit, sagt der Historiker Bodo von Borries

Bodo von Borries

■ wurde 1943 in Berlin geboren. Von 1976 bis 2008 war er Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Sein Schwerpunkt: Didaktik der Geschichte.

taz: Herr von Borries, Sie wurden während des Zweiten Weltkriegs geboren. Wie haben Ihre Lehrer Ihnen später das Thema Nationalsozialismus (NS) nähergebracht?

Bodo von Borries: Bei mir kam der NS in der Mittelstufe mit einem völlig unzureichenden Schulbuch dran, das 19 Worte über sechs Millionen Holocaust-Opfer verlor und deutliche Sympathien für die „deutsche Expansion“ und die „Blitzsiege“ Hitlers äußerte. Ein anderes Schulbuch behauptete, dass in ganz Deutschland nur etwa 100 Menschen von der „Endlösung“ gewusst hätten. Wir kriegten aber auch sehr früh Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ mit KZ-Leichenbergen vorgeführt. In der Oberstufe arbeiteten wir dann mit einem jungen Lehrer mit Originalquellen.

Wie hat sich der Unterricht im Lauf Ihrer Zeit als Geschichtsdidaktiker verändert?

Die Theoriegrundlagen haben sich geändert: von der Stofforientierung mit Lehrererzählung zu Kompetenz- und Handlungsorientierung. In der Praxis hat sich vermutlich viel weniger geändert, auch wenn wir darüber nichts Genaues wissen. Sinnvoll wäre es, geschichtskulturelle Darstellungen wie Fernsehen, Zeitungskontroversen oder Ausstellungen kritischer einzubeziehen. In dieser Form begegnet die Geschichte den Menschen auch nach der Schulzeit noch. Dafür sollten sie kompetent sein.

Warum ist es so wichtig, dass Schüler über die NS-Geschichte Bescheid wissen?

Die großen menschheitsgeschichtlichen Verbrechen sind um der Solidarität mit den Opfern und der Prävention ähnlicher Untaten willen erinnerungspflichtig. Der NS gehört zu den wenigen Themen, die als Pflichtstoffe nicht gestrichen werden können. Er interessiert die meisten Jugendlichen nachweislich ganz besonders. Schließlich beherrscht er die öffentliche Geschichtskultur in Deutschland.

Wie sieht guter Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus heute aus?

Das lässt sich nicht eindeutig sagen. Eine der wenigen Studien zu dem Thema belegt eine mäßige Bedeutung des Geschichtsunterrichts für die Einstellung zum NS, auch weil er sehr spät drankommt. Da haben andere Fächer, die Elternhäuser oder die Massenmedien – schlimmstenfalls auch neofaschistische Jugendgangs – längst Perspektive und Wertung festgelegt. Eine viel frühere Behandlung des NS wird in Israel und den USA als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Beschreibung der hiesigen Verhältnisse löst Kopfschütteln aus.

Die Zeitzeugen sterben aus, auch in den Familien – was ändert das?

Zeitzeugen sind eindrucksvoll – weniger wegen des Quellenwerts ihrer Aussagen als wegen der unmittelbaren personalen Begegnung bei der Darstellung von Geschichte. Zeitzeugenerzählungen geben Botschaften, Orientierungsangebote an die Folgegenerationen weiter. In der Öffentlichkeit wird ihr Stellenwert allerdings überschätzt.

Wie wichtig sind Projekte wie die Stolpersteine?

Die Stolpersteine haben effektiv dazu beigetragen, die NS-Massenverbrechen ins Alltagsbewusstsein zu heben. 20 Jahre zuvor wäre es noch unzumutbar gewesen, die Namen der Ermordeten täglich mit Füßen zu treten. Mir persönlich ist die Erkenntnis wichtiger: Nicht irgendwo, sondern hier bei uns! Die frühere Praxis, die Taten und die Täter nachträglich aus dem deutschen Volke „auszubürgern“, wird dadurch deutlich erschwert.

Der Berliner Lehrplan empfiehlt Lehrern den Besuch einer Gedenkstätte oder eines Museums. Welche Rolle spielen diese Orte bei der Geschichtsbildung?

Sie haben ihren Wert, sie zu besuchen sollte an Schulen selbstverständlich sein. In der Gedenkstättenszene ist auch durchaus bewusst, dass eine spezielle „Betroffenheitspädagogik“ weder nötig noch wünschenswert ist. Der Versuchung, sich auf ein Re-Enactment, eine szenische Vorführung von KZ-Leben und -Sterben, einzulassen, haben die Gedenkstätten bisher glücklicherweise widerstanden.INTERVIEW: FELIX AUSTEN