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Archiv-Artikel

Frische Meeresinsekten und altes Fleisch

PFUI Oktopus vs. Schwein: Was einer liebt, widert die andere an. Eine kulinarische Tour de Force durch Andalusien

„Iss, iss!“ Ich esse. Ich breche den Gambas die Köpfe ab und entledige sie ihrer Beine. Ich schlürfe seltsam unübersichtlich gestaltete, knorpelig anmutende Körper aus Muschelgehäusen

VON MARTIN REICHERT

Sie nimmt ein hauchdünn geschnittenes Scheibchen Jamón Ibérico und führt es andächtig zum Mund. Mit Bedacht lässt sie die Delikatesse, der „Pata Negra“ gilt als bester Schinken der Welt, auf ihre Zunge gleiten. Dann verdreht sie die Augen und ruft: „Ein Taschentuch, schnell“. Wir sind in Andalusien, zu Besuch bei einer spanisch-marokkanischen Familie – und sie selbst stammt aus Ägypten. „Es ist so ekelhaft, schnell.“ Sie spuckt den Schinken aus.

Sie ist Muslima, und Schwein essen ist für sie ähnlich attraktiv wie für mich die Vorstellung, einen Löffel Hunde-Gulasch zu verspeisen. Dazu ist es noch altes Schwein, der Jamón Ibérico wird in einem Zeitraum von zwölf bis achtunddreißig Monaten luftgetrocknet. Aber sie wollte es wenigstens versuchen, wollte probieren, teilhaben an der Faszination. Es geht nicht.

Ich kann nicht genug kriegen von dem alten Schwein, zu Hause im winterlichen Deutschland könnte ich mir diesen Schinken kaum leisten. Das durchdringend-würzige Aroma, die zarte Beschaffenheit, der subtil-fettige Glanz. Er zergeht – tatsächlich – auf der Zunge.

Die Schinkenkeule ist auf einer „Jamonera“, einem Holzgestell, befestigt und steht in der Küche neben dem Kühlschrank. Die marokkanische Großmutter, die auch im Haus lebt, muss jeden Tag mindestens dreißig Mal am ausgestreckten Fuß eines toten Schweins vorbei. Sie erträgt es mit Langmut, so wie den Weinkühlschrank im Esszimmer, gefüllt mit herrlichem Rioja. Auch wenn sie sich ekelt, „Haram“! Sie kocht einfach gegen das Falsche an. Bereitet riesige Schalen mit süß-herzhaftem Cous-Cous zu, knuspriges Hühnchen gefüllt mit Innereien und Oliven, Pasteten mit Hackfleisch. Frittiert Kartoffelstückchen in bestem Olivenöl, backt frisches Fladenbrot, „esst, esst!“.

Am dritten Tag besuchen wir ein traditionelles Fisch-Restaurant in der Nähe von Cadiz. Siebzehn Grad, die Sonne scheint. An der Theke liegen die Früchte des Atlantiks aufgebahrt: Gambas. Langusten. Muscheln. Krebse. Sie schimmern in rötlicher Frische, sind auf Eis gebettet. Es riecht nicht nach Tran, sondern nach Meer – eine solche Frische bekommt nur geboten, wer sich an die Küste begibt. Sie bestellt Unmengen. Gambas, Krebse, Langusten. Alles wird auf dem Tisch ausgebreitet, als hätte jemand ein Fangnetz entleert.

Und mich überkommt: der Ekel. Die Gambas sehen aus wie rosa Heuschrecken. Gekrümmt liegen sie da, mit schwarzen Augen. Sie reißt ihnen den Kopf ab, pellt die Beine ab und beißt in den weißen, nackten Wurm: „Lecker! Himmlisch! Das ist so wie früher, wenn wir von Kairo ans Meer gefahren sind.“ Meeresinsekten, denke ich.

Die Großmutter reißt an einem spinnenartigen, langen roten Bein eines bizarren Schalentiers, reicht mir das weiße Fleisch hinüber, „iss, iss!“. Ich esse. Ich breche den Gambas die Köpfe ab und entledige sie ihrer Beine. Ich schlürfe seltsam unübersichtlich gestaltete, knorpelig anmutende Körper aus Muschelgehäusen.

Auf dem Tisch häufen sich Schwänze, Köpfe, Oktopus-Innereien, Scheren. Das ist schlimmer als „Dschungel Camp“, das gerade in Deutschland läuft. Mir wird schlecht. Dabei wollte ich so gerne teilhaben, probieren. Es geht nicht.

Wir fahren zurück nach Conil de la Frontera, nach Hause. Über das schmale Stückchen Atlantik funkt marokkanisches Radio in die Auto-Antenne. Und am späten Abend, nach der Siesta, probieren wir es noch einmal alle zusammen mit dem Essen. Wir gehen in eine Tapas-Bar – und wählen so viele Gerichte aus, das wirklich für jeden etwas dabei ist.

Entenleber mit Erdbeer-Chutney, Chorizo mit Bohnen, Kroketten, Ochsen-Carpaccio – Pata Negra und Gambas auf Salzkruste. Geht doch.

Der Autor ist sonntaz-Redakteur und ekelte sich am meisten vor dem „Tasty Italian Snack“ auf dem Rückflug Malaga–Berlin (Swiss Air)