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Der letzte Kreis der Hölle

COMIC Opfer, Täter, Paradies und Hölle sind in Manu Larcenets Tetralogie „Blast“ keine Gegensätze: Das 800-Seiten-Werk bedeutet eine Zäsur in seinem Schaffen

Collagen mit Echtschamhaar als Zeitvertreib: „Blast“ von Manu Larcenet Foto: Abbildung: Reprodukt

Manchmal gibt’s das im Werk eines Künstlers: Da taucht etwas Neues im Werk auf – und plötzlich scheint alles anders. Und danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Mit der Sprache der Kunst hat sich die Sicht auf die Dinge geändert. So wie es nach Dantes „Göttlicher Komödie“ plötzlich Italienisch gab und eine neue Form von Literatur.

Das scheint Ihnen übertrieben? Nun, Manu Larcenet schöpft in seiner Tetralogie „Blast“ zumindest das gesamte gestalterische Vokabular des Kunstgenres Comic voll aus. Es ist eine Höllenfahrt, auf die Larcenet seinen adipösen Protagonisten vor fünf Jahren mit dem ersten Teil, „Masse“, geschickt hat, und die sich im nun vorgelegten vierten Band – „Hoffentlich irren sich die Buddhisten“ – vollendet.

Polza Mancini heißt der Protagonist. Er ist ein Aussteiger ohne jedes Hippie-Pathos. Mancini Mitte/Ende 30, verlässt sein bürgerliches Leben und wird zum Penner, bis er sich am Bett seines sterbenden Vaters auf der Krebsstation wiederfindet. „Noch am selben Tag und zum ersten Mal in meinem Leben kam der Blast über mich“, berichtet er.

Der Blast – das englische Wort bezeichnet den Druckeffekt, die Stoßwelle einer Explosion. Hier steht’s für visionäre Zustände, die in die tiefschwarze Encre de ­Chine-Welt Mancinis als unschuldig farbenfrohe Kinderzeichnungen einbrechen. Und der erzählt von zwei namenlosen Kommissaren im Verhör, in dem er seinen ganzen Trip neu durchlebt.

Meisterhaft hält Larcenets von langen wortlosen Passagen geprägte Erzählweise in der Schwebe, ob hier ein Monster spricht. Oder ob ihn bloß diese beiden scharf gezeichneten Bullen dazu machen, indem sie ihm eine Reihe Gewaltverbrechen unterschieben, acht Morde, aus Abneigung: „Weil … das ganze Fett, das der drauf hat, … das … widert mich an …“, sagt der eine von ihnen, als er Polza vor der ersten Begegnung durch den Türspion in der U-Haft-Zelle beobachtet. Im letzten Band, nach dem Verhör, wird der Kommissar dort, wie aus Versehen, eine Plastiktüte vergessen. „Eine fatale Panne“, nennt er das, „die einzig und allein ich zu verantworten habe …“

Es geht um wenig freundliche Gedanken. Für Güte und Versöhnung hat das Blast-Universum für Larcenets aus anderen Werken bekannten grotesken Witz keinen Platz. Immerhin, ein idyllisches Landschaftsgemälde des 2007 gestorbenen Typo-Designers Yvan Boul taucht auf. Und als Gast streut „Astérix“-Zeichner Jean-Yves Ferri aka Milton Ferri wundervoll sarkastische Strips von „Jasper dem Bipolarbären“ ein.

Aber alle Intermezzi des Glücks, der Liebe und der Zärtlichkeit bereiten stets die Bühne für neuen Schrecken. In Band drei, „Augen zu und durch“, war Polza, dessen Name eine Kurzform der Sowjet-Losung Pomni Leninskije Zavety – gedenke der Lehren Lenins – ist, von den Brüdern Wladimir und Iljitsch gefoltert und vergewaltigt worden, nachdem er sie an seinem Lagerfeuer bewirtet hatte. Ihn danach warmherzig aufgenommen und seine Darmrisse verarztet haben Roland Oudinot, den er seit einem Psychiatrie-Au­fenthalt kennt, und dessen Tochter Carole. Doch schon diesen Band hatte ein ganzseitiges, grandioses Porträt Mancinis im Stile eines Art-brut-Gemäldes beschlossen, Weinrot, Braun auf blassem Gelb. Rechts oben, winzig, ein weißes Karree mit dem Geständnis, ja, er habe Rolands Leiche verbrannt, doch „ich habe ihn nicht umgebracht“ so Polza. „Das war Carole“.

Ein Nachtmahr auf Papier grinst diese Grimasse unheilvoll aus dem dritten Band heraus: Wenn es Erlösung von diesem Alb gibt, liegt sie darin, dass nun wirklich die Geschichte des Vatermords erzählt wird.

Es geht um wenig freundliche Gedanken. Für Güte und Versöhnung hat das Blast-Universum für Larcenets aus anderen Werken bekannten grotesken Witz keinen Platz

Um diesen Abgrund zu erreichen, lenkt Larcenet den Blick in die perverse Welt des barmherzigen Samariters Roland. Gemeinsam mit Polza schmökert er in der Comic-Zeitschrift Fluide Glacial und verbringt sonst die Zeit damit, pornografische Collagen mit Echtschamhaar auf Karopapier zu kleben. Aber ohne seine Pillen ist Schluss mit harmlos. Und auch Mancini …

Doch nicht zu viel verraten. Auch wenn klar ist, dass Polza den großen Heroinrausch, den er mit Carole nach der Tat gemeinsam unternimmt, nur ganz allein erlebt: Er erfährt ihn als ultimativen Blast, als Erfüllung, Extase – Paradies. Und fragt nach ihr noch – „Carole?“ – als ihn der Strudel einer lachend-roten Sonne längst verschlingt.

Manu Larcenet: „Blast, IV. Hoffentlich irren sich die Buddhisten“. Reprodukt, Berlin, 2015. 208 S., 29 €. Bereits erschienen: Band I „Masse“ und Band II „Die Apokalypse des Heiligen Jacky“

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