: Fall eines Hoffnungsprojektes
WENDEZEIT In seinem autobiografischen Roman „89/90“ erzählt Peter Richter vom Ende der DDR aus der Sicht eines Sechzehnjährigen. Die Lektüre des Buches zieht unweigerlich in einen Strudel der Erinnerung
von Frank Keil
Es muss irgendwann im Spätsommer gewesen sein, ein Jahr vor der Wende. In der unmittelbaren Nähe von Dresden besuchte ich mit meinen DDR-Verwandten deren neue Datsche. Eine sehr hübsche Gartenlaube, mitten auf einer humpeligen Apfelbaumwiese. Was in diesem merkwürdigen, faszinierenden Land mittlerweile los sein musste, davon bekam ich dort eine allererste Ahnung.
Es mache sicher Spaß, hier im Grünen zu übernachten und morgens ausgeschlafen im Grünen aufzuwachen, sagte ich irgendwann. Meine DDR-Verwandten, sonst so sächselnd-plauderig, wurden schlagartig merkwürdig still. Und ich – wie wir Westler damals so waren – bohrte nach, wollte wissen, was so seltsam war an meiner Bemerkung. Mein DDR-Onkel fasste sich schließlich ein Herz: Also, hier übernachten, das ginge nicht, sagte er. Drüben am See, da träfen sich abends immer die Hitlerfreunde.
„Die Hitlerfreunde?“, fragte ich irritiert. Er nickte betrübt: Ja, sie grölten herum, später sängen sie das Horst-Wessel-Lied, nach und nach pfefferten sie dann ihre leeren Bierflaschen in den See. Manchmal prügelten sie sich untereinander und ab und an käme die Volkspolizei. Oft aber eben auch nicht. Und sich mit denen anlegen? Besser nicht! Er habe ja nicht Jahrzehnte DDR überstanden, um nun ...
Einen Moment lang saßen wir noch in der Sonne. Aber dann verrammelten meine Verwandten ihre Laube, als drohte ein schlimmer Sturm, und es ging wieder nach Hause. Dort hatten meine DDR-Verwandtenkinder noch Schularbeiten zu machen, im Fach Geschichte: „Berichte aus dem Leben des großen Arbeiterführers Ernst Thälmann, der sich auch im KZ nicht brechen ließ und dem zu Ehren du das blaue, vielleicht auch schon das rote Halstuch der Thälmannpioniere trägst ...“, lautete die Aufgabe.
Warum ich das gerade so lebhaft wieder erinnere? Weil die Lektüre von Peter Richters großartigem Roman „89/90“ jeden, der die DDR kannte oder der sie wenigstens dann und wann mal besuchte, in einen tiefen, einen nicht enden wollenden Erinnerungsstrudel zieht. Weil einem beim Lesen mit einem mal wieder der Geruch dieses gräulichen Einpackpapiers in die Nase steigt, das in der Kaufhalle auslag. Dort, wo diese seltsam verblichenen Gestalten als Helden der Arbeit starr auf einen herabblickten.
Weil man plötzlich diesen so rührend anders engagierten DDR-Pop in den Ohren hat, der immer so unbeholfen, so nachgemacht und zugleich so ehrlich aufrichtig nach Anders-sein-wollen klang – obwohl es um einen herum absolut still ist. Und weil man nicht zuletzt wieder weiß, wie man später vor dem Fernseher saß und recht ratlos gestimmt zuschauen konnte, wie dieses andere Deutschland einem jeden Tag näher rückte. Man erinnert sich, dass man bald lernen musste, was das ins West-Deutsch übersetzt hieß: „Fidschis klatschen“. Dann erfuhr man von vorher unbekannten Ortschaften wie Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Ein Buch also, das wie ein Erinnerungsgenerator funktioniert, der, ist er einmal angeworfen, so schnell nicht auslaufen will.
Aber versuchen wir es etwas sachlicher, distanzierter und auch nüchterner: Peter Richter, Jahrgang 1973, ist in Dresden aufgewachsen und hat auch in Dresden die sogenannte Wende erlebt. Nun erzählt er in seinem Roman davon, wie sich ein Land namens DDR erst stückchen-, dann scheibchenweise, dann in felsbrockengroßen Stücken auflöst – und wieder neu zusammensetzt. Wie nach einem kurzen, übrigens zweifelhaften Sommer der Anarchie einerseits die oppositionellen Kräfte, die auch persönlich so viel riskiert hatten, politisch in der Bedeutungslosigkeit versanken. Und wie andererseits der Kapitalismus seinen nächsten Siegeszug startete, statt an seinen angeblich inneren Widersprüchen zu ersticken.
Und so ziehen sie noch einmal, als sei es höchstens gestern gewesen, an uns vorbei: Die aufmüpfigen Schüler, die mit einfachen Fragen ihre müden, staatstragenden Lehrer zur Weißglut treiben; die ersten Demonstranten, wie sie so vorsichtig am Montagabend die Kirchen und Kirchenjugendkeller verlassen, mit Westmusik, aber auch noch Gerhard Schöne im Ohr. Die alte Frau R., die unbeirrt von allem den Schaukasten vom Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front mit Verlautbarungen bestückt, während bald die Commerzbank ihre ersten Container aufstellt, um den noch so Finanzunkundigen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Bis zum Ende hin unser erzählender Held immer häufiger des nachts fluchtartig durch sein heimatliches Dresden eilt, auf der Hut vor den Glatzen, die nicht weniger vorhaben, als ihn zu Brei zu schlagen. Währenddessen macht sich seine große und also unerreichte Liebe auf, in der noch existierenden Sowjetunion eine bessere Zukunft zu finden. Eine fast gläubige Kommunistin, die partout nicht glauben will, dass das alles um sie herum gerade tatsächlich passiert.
Wer also Richters Buch liest, der erlebt noch einmal den Aufstieg und Fall eines großen Hoffnungsprojektes. Der fiebert noch einmal mit, bangt und hofft – und weiß doch schon, dass das alles nichts wird. Und es wird ihn daher nicht mehr groß wundern, warum jene obskur-gefährliche Sammelbewegung namens Pegida gerade in Dresden und den umliegenden Kleinstädten wie Freital (wo jene Datsche damals stand) mental so fest verankert ist.
Heute lebt Peter Richter als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York – weiter weg von Dresden geht wohl kaum. Am Montag aber wird er in Hamburg sein, wird im Rahmen der Altonale und im Rahmen der Reihe „Schwanenwik goes Schulterblatt“ aus seinem Buch lesen. Und ich staple nicht zu hoch, wenn ich behaupte: Es wird ein Erinnerungsflash sein. Anschließende Desillusionierungsgefühle inklusive.
Lesung im Rahmen der Literatur-Altonale in Hamburg: Mo, 29. 6., 20 Uhr, Kulturhaus 73, Schulterblatt 73
Peter Richter: „89/90“, Luchterhand 2015, 416 Seiten, 19,99 Euro
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