: Die Bronx macht Schluss mit Feenland
Beim zweiten Volksbühnen-Konzert von CocoRosie in diesem Jahr waren die beiden verschrobenen Schwestern über weite Strecken wieder die Antithese zum grundsoliden Rockhandwerk – entzauberten sich am Ende aber selbst
Meist beginnen Konzerte in der Volksbühne so pünktlich wie sie enden – am Theater hält man einiges vom geregelten Betrieb. Beim Konzert von CocoRosie, die bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr die Volksbühne ausverkauft hatten, war das anders. Es ging spät los, der Vor-Act Scout Niblett spielte ewig und vor allem viel zu lange, und auch die beiden Schwestern von CocoRosie wollten kein Ende finden.
Wahrscheinlich musste das so sein. Sich mal wieder Zeit nehmen, ja sagen zur Opulenz, einfach auch mal langweilen – das gehört alles mit zum Programm dieses Duos, dem eine ausgeprägte Hippiehaftigkeit nachgesagt wird. Anfangs war man überwältigt. Bianca und Sierra Casady, die beiden von CocoRosie, erschienen in fahlem Bühnenlicht mit ihren eigentümlichen Feen-Outfits, im Hintergrund wurden auf die Leinwand bunte Visuals projiziert, dazu bot einer permanent Ausdruckstanz, und einen dezent agierenden Beatboxer gab es auch noch. Der Originalitätsfaktor war also immens, der Hang zum Kunstfertigen und Björkhaften dabei aber auch offensichtlich. Die visuelle Überwältigung und das Entzücken darüber, wie schön doch diese CocoRosie-Musik ist, wurde allerdings schnell von der Kakophonie der Zeichen geschluckt: Visuals von Drag-King-Inszenierungen, der Tänzer, Pierrot-Masken, Visuals von Bärchen, Operngesang, Quietschgesang, Sphärengesang, das Spiel an der Harfe, Geräusche – ein permanentes Zuviel an Reizen.
CocoRosie gehören zur Queer-, Free-, Freakfolkszene, oder wie immer man das nennen mag, was sich da um schillernde Personen wie Anthony, Devendra Banhart oder Joanna Newsom in den USA herausgebildet hat. Diese Szene setzt nicht auf die Band, wie man das in Großbritannien fleißiger denn je tut, sondern auf Netzwerke. Man hilft sich gegenseitig bei den Plattenaufnahmen und plündert gemeinsam und hemmungslos die Musikgeschichte. CocoRosie haben das Ätherische von der eben wiederentdeckten Vashti Bunyan, die Alltagsgeräusche aus der avantgardistischen Tape-Szene der 60er-Jahre. Sierras Operngesang erinnert an Yma Sumac, und auch Billy Holiday verdankt man einiges. CocoRosie haben sich ein riesiges Zitatnetz gesponnen, in das sie sich freudig einwickeln. Alles wirkt kauzig und unwirklich. Dazu passt, dass die beiden Schwestern ihre erste Platte angeblich komplett in einem Badezimmer einer Pariser Wohnung eingespielt haben und ihr Vater ein Schamane der Cherokee-Indianer sein soll.
Bis kurz vor Schluss des Auftritts wirkte diese ausgestellte Verschrobenheit geschmackssicher – zumindest so geschmackssicher wie das berühmte Schwanenkostüm von Björk. Doch dann gab es einen echten Aussetzer. Da traten die Schwestern samt Tänzer und Beatboxer an den Bühnenrand, verließen das Land der Träume, animierten zum Mitklatschen, riefen zur Party und taten so, als kämen sie direkt aus der Bronx. Da wurde einem plötzlich klar, dass man sich in einem Theater befand, dass auch CocoRosie nur Illusionistinnen und vielleicht sogar echte Menschen sind. Schade, man hätte sich gerne täuschen lassen wollen.
ANDREAS HARTMANN