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Archiv-Artikel

Tödliche Prügel im Waisenhaus

Nach dem Tod eines Kleinkindes und der Aufdeckung skandalöser Zustände in türkischen staatlichen Kinderheimen gerät die Regierung in Ankara unter Druck

ISTANBUL taz ■ Die türkische Regierung ist unter Druck. Auslöser ist kein Streit mit der EU oder den laizistischen Opponenten der islamisch grundierten Regierung, sondern ein Skandal um die Behandlung von Kindern in staatlichen Waisenheimen. Die Opposition fordert den Rücktritt der zuständigen Ministerin und findet breite Unterstützung in den Medien und der Bevölkerung.

Aufgedeckt und publik gemacht hatte den Skandal der private Fernsehsender „Star TV“. Mit versteckter Kamera hatte ein Team über die verheerenden Zustände in dem staatlichen Waisenhaus in der osttürkischen Stadt Malatya berichtet. Sofort danach wurden unhaltbare Zustände auch in weiteren Kinderheimen publik, vor wenigen Tagen kam noch der Tod eines Kleinkindes dazu.

Im Fernsehen konnte die Nation nun mitverfolgen, wie die Kinder im Waisenhaus von Malatya misshandelt wurden. Die Bilder waren so schockierend, das sich danach vor dem Heim eine wütende Menge aus der Nachbarschaft versammelte und gegen die Gewalt protestierte.

Die Regierung Erdogan sah sich genötigt, eine Untersuchung der Vorfälle anzuordnen. Allerdings wehrte sich Erdogan gegen die Rücktrittsforderung an die Adresse seiner Familienministerin Nimet Cubuklu mit dem Argument, sie wäre nicht für die Fehler der Vergangenheit verantwortlich zu machen.

Erdogan deutete damit an, dass die Waisenhäuser in der Türkei insgesamt eher schlechte Verwahranstalten als gute pädagogische Einrichtungen sind. Das, so hieß es aus der Regierung, sei schon lange so und nicht der Ministerin anzulasten.

Kurz darauf wurde bekannt, dass die Ministerin selbst in die Vertuschung der skandalösen Zustände in Kinderheimen verstrickt ist. Eine große Nachrichtenagentur veröffentlichte Interviews mit drei Mädchen aus einem Waisenhaus in Urfa, die berichteten, sie hätten sich mehrfach mit Beschwerden an die Ministerin gewandt, ohne eine Antwort bekommen zu haben. Vorausgegangen war ein Besuch der Ministerin in dem Waisenhaus in Urfa vor einigen Monaten, bei dem die Mädchen ihr einen Beschwerdebrief übergeben hatten. Außerdem ließ sie den Mädchen eine Nummer übergeben, unter der diese sich angeblich bei Problemen an sie wenden könnten. Doch die Nummer war immer unerreichbar.

Nach Angaben der Mädchen, die zwischen 13 und 18 Jahre alt sind, waren sie in dem Waisenhaus nicht nur geschlagen worden, sondern der Direktor hätte sie auch nachts im Schlafsaal belästigt. Dies hätten sie auch der Ministerin geschrieben, doch sei nie eine Reaktion gekommen.

Seitdem veranstaltet die Ministerin Nimet Cubuklu eine groteske PR-Tour durch die Waisenhäuser des Landes. Vor großem Kameratross werden täglich Kinder geküsst und Anteilnahme geheuchelt. Cubuklu ist die einzige weibliche Ministerin im Kabinett Erdogan und schwer zu ersetzen, weil sie zu den wenigen AKP-Funktionärinnen gehört, die kein Kopftuch tragen.

Doch mit einem Austausch des zuständigen Ministers allein ist es noch nicht getan. Wie jetzt auch öffentlich diskutiert wird, leiden alle Kinderheime in der Türkei darunter, dass für ihre Ausstattung zu wenig Geld zur Verfügung steht und das Betreuungspersonal meistens pädagogisch kaum ausgebildet ist. Auch in dem Heim in Malatya bestand die Qualifikation des Heimleiters vor allem darin, ein Verwandter des Bürgermeisters zu sein. Dazu kommt noch, wie die Hürriyet schrieb, dass viele, die sich jetzt zu Recht über Prügel in Waisenhäusern aufregen, nichts dabei finden, ihre eigenen Kinder hin und wieder selbst zu verprügeln. JÜRGEN GOTTSCHLICH