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Archiv-Artikel

Die Chemie ist schuld am Krebs

Kinderärzte und Krebsspezialisten warnten gestern in Brüssel: Die EU-Chemikalienrichtlinie darf nicht aufgeweicht werden. Denn Krebsraten und Allergien steigen dramatisch – durch Umweltgifte. 300 Chemikalien finden sich im Blut eines Europäers

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Die Zahlen sind erschreckend: 75 Prozent aller Krebserkrankungen sind direkt oder indirekt auf schädliche Umwelteinflüsse zurückzuführen. Die restlichen 25 Prozent werden durch Tabak ausgelöst. Diese Einschätzung präsentierten gestern Krebsspezialisten und Kinderärzte in Brüssel. Sie gehören dem „Pariser Appell“ an, den 70 Wissenschaftler initiiert haben – darunter Nobelpreisträger. Gemeinsam wollen sie verhindern, dass die EU-Chemikalienrichtlinie REACH verwässert wird (siehe Kasten).

Bei Kindern steigt die Krebsrate jährlich um ein Prozent und ist zur zweithäufigsten Todesursache geworden. Die Brustkrebsrate hat sich in 20 Jahren verdoppelt. Prostatakrebs bei Männern hat sich seither verdreifacht. Eine Studie aus Wales und England zeigt, dass dort die Rate sämtlicher Krebserkrankungen explodierte: Zwischen 1970 und 1999 stieg sie um 60 Prozent.

Auch andere Umwelterkrankungen haben enorm zugenommen. 15 Prozent aller Paare sind ungewollt kinderlos. Der österreichische Kinderarzt Andreas Lischka ist überzeugt, dass die Symptome oft fälschlich als psychosomatisch eingestuft werden, obwohl in Wahrheit das Zentralnervensystem auf Umweltgifte reagiert. Auf vier bis neun Prozent wird der Anteil der Bevölkerung geschätzt, der unter schwersten Umwelterkrankungen wie chronischer Ermüdung oder schwerem Asthma leidet.

Die Ärzte in Brüssel wurden auch regional unterstützt: In Berlin äußerte sich der Vorsitzende des Umweltausschusses der Bundesärztekammer ebenfalls alarmiert. „Im Blut eines Europäers finden sich bis zu 300 Chemikalien. Selbst im Nabelschnurblut von ungeborenen Kindern werden Chemikalien gefunden“, sagte Heyo Eckel. Zudem sei nicht nur die genaue Wirkung vieler Stoffe unbekannt – sondern auch die kombinierte Wirkung dieser Chemikalien-Cocktails. Eckel kritisierte, dass REACH nur chemische Stoffe in Reinform betrifft, nicht aber die Produkte, mit denen die Verbraucher real in Berührung kommen, wie Textilien oder Spielzeug. „Die Pflicht zur Registrierung ist auf solche Produkte auszuweiten.“

Eckel monierte auch, dass REACH jene chemischen Stoffe nicht betreffen soll, von denen im Jahr weniger als eine Tonne produziert wird. „Der Entwurf enthält keinen Mechanismus, der Stoffe mit hohen Gesundheitsrisiken erkennt, wenn sie nur in kleinen Mengen hergestellt werden.“

Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Registrierung von rund 30.000 chemischen Substanzen 2,3 Milliarden Euro kosten wird – verteilt auf elf Jahre. Rechnet man die Umstellung auf weniger gefährliche Ersatzstoffe hinzu, so dürfte die Gesamtbelastung bei etwa 5,2 Milliarden Euro liegen. Sollten dadurch die umweltbedingten Krankheiten um 10 Prozent zurückgehen, könnten in den nächsten 30 Jahren 50 Milliarden Euro an Gesundheitskosten gespart werden. Der Haken ist nur, dass davon nicht die chemische Industrie, sondern die Krankenkassen profitieren würden.