Fotoreporter: Weinende Kinder sehen dich an

Einst fotografierte er vietnamesische Kinder beim Napalm-Angriff, jetzt eine weinende Paris Hilton. Über die Bilder des AP-Fotografen Nick Ut. Und über uns.

Paris Hilton vor dem Gericht von Los Angeles, 8. Juni 2007 Bild: ap/nick ut

"Wo bitte geht es hier zur Front?" Das fragen sich im gleichnamigen Jerry-Lewis-Film orientierungslose Soldaten. Oder aber es ist die Frage nach der Positionsbestimmung von Fotografen, die ihre Kameras im Krieg wie Waffen handhaben. Aufnahmen vom richtigen Objekt im richtigen Moment können auf dem Feld der öffentlichen Meinung einschlagen wie eine Bombe. So war es jedenfalls mit dem Foto, das der vietnamesische AP-Fotograf Nick Ut am 8. Juni 1972 während eines Napalmangriffs auf das Dorf Trang Bang geschossen hat. Es zeigt fünf fliehende Kinder und machte insbesondere die damals neunjährige Kim Phúc in der linken Bildmitte zur Ikone der Pazifisten. Nackt und weinend musste sie auch amerikanischen Zeitungslesern als personifizierte Unschuld erscheinen und den Krieg als einzige Ungerechtigkeit gegenüber wehrlosen Zivilisten erscheinen lassen. Susan Sontag stellte fest, dass dieses Bild mehr zum Stimmungsumschwung gegen den Vietnamkrieg beigetragen habe als "hundert Stunden im Fernsehen ausgestrahlte Barbareien".

Dabei wusste Nick Ut, der für seinen Schuss den Pulitzerpreis erhielt, selbst, wie sehr er dabei von der Gunst des Augenblicks profitierte: Das Foto, so bekannte er später, "war viel authentischer als der Krieg selbst". Bilder, die nämlich nur Sekunden darauf von anderen Fotografen geschossen worden waren, zeigten dieselben Personen mit ernsten, aber weitaus weniger dramatischen Gesichtsausdrücken.

35 Jahre zuvor: Das vietnamesische Dorf Trang Bang am 8. Juni 1972 Bild: ap/ut

Mit Hilfe welchen Zahlenteufels auch immer hat Nick Ut, der heute 56 ist und noch immer für AP arbeitet, jetzt auf den Tag genau 35 Jahre später erneut ein weinendes Kind fotografiert. Und amerikanische Blogger diskutieren auf der Seite jezebel.com bereits, ob dieses Bild wohl zu einer Ikone des Jahres werden wird. Die abgelichtete Paris Hilton ist 26 Jahre alt und muss allein aufgrund des Hilferufs, den sie gerade noch abgesetzt hat, als Kind gelten: "Mama, Mama!" Uts Bild zeigt die weinende Paris hinter der Fensterscheibe eines Streifenwagens auf dem Weg ins Gefängnis, wo sie ihre zwischenzeitlich in einen Hausarrest umgewidmete Haftstrafe für Trunkenheit am Steuer nun doch verbüßen soll. Schwarze Balken, die in der Scheibe reflektieren und das Bild diagonal durchqueren sowie die grobkörnige Qualität verbürgen glaubhaft die Spontaneität der Aufnahme.

Fotohistorisch beschlagene Blogger titulieren dieses Drama zugunsten einer charismatischen Aufladung des Girls ohne Eigenschaften: "Paris Hilton: The Kim Phúc of 2007". Und dass Kriegsbilder sogar ganz ohne Krieg entstehen können, haben hierzulande erst gerade ganze Galerien fotografischer Kunstschüsse aus der Rostocker Altstadt bewiesen.

Wovon aber erzählt das Bild des einstigen Vietnam- und heutigen Hollywood-Paparazzos Nick Ut? Es erzählt von einer gleichzeitigen Ausweitung und Einschränkung der Kampfzone. Denn während die einen noch über die rassistische Doppelmoral diskutieren, die weißen Promis Haftstrafen erleichtern will, und Interessenverbände auf die steigende Zahl amerikanischer Verkehrstote durch Alkoholismus aufmerksam machen, ist doch die Sache die: Das Geschehen an der tatsächlichen Front unterliegt längst einem strikten Bilderverbot. Oder hat jemals jemand die irakische Kim Phúc gezeigt? Die Front wurde nach Innen verlegt. Hier tobt ein Krieg, den minderjährige und erwachsene Kinder in aller Verbissenheit mit sich selbst austragen.

Es geht dabei um Essgewohnheiten, Benimmregeln, kosmetische oder chirurgische Eingriffe und um die endgültige Interessenverlagerung vom Weltgeschehen auf den Boulevard. Von diesem Krieg leben Armeen von Paparazzi. Wenn das weinende Kind Kim Phúc das Mitleid für die Verdammten dieser Erde aufrufen konnte, produziert das weinende Kind Paris Hilton nur Neugier. Sollte etwa just in diesem Moment der Gesichtspanzer brechen und etwas gänzlich Unbekanntes, etwas Interessantes zu Tage treten - ein Horror, ein Alien, ein Glück, eine Erscheinung? Hier bitte, hier gehts zur Front.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.