Russland: "Die Justiz gleicht einer Farce"

Aus Angst vor dem Volk schränkt Präsident Putin Freiheiten ein - und schafft so selbst eine vorrevolutionäre Situation, meint Putins Ex-Premier Kasjanow.

"Nach Beslan hätte ich zurücktreten müssen": Früherer russischer Premierminister Michail Kasjanow Bild: dpa

taz: Herr Kasjanow, Sie sind aus dem Bündnis "Anderes Russland" ausgetreten. Die marginale Opposition ist jetzt noch schwächer. Musste das sein?

Michail Kasjanow: Die Frage ist nicht richtig gestellt. Wir waren eine vorübergehende Koalition, die ein Jahr den Konsens aufrechterhalten konnte. Nach den Aprilmärschen der "Andersdenken" hat sich die Koalition diskreditiert. Es wurde gegen meinen Rat weiter demonstriert, obwohl immer weniger Leute an den Aktionen teilnahmen. Die Glaubwürdigkeit litt darunter. Außerdem gab es Meinungsverschiedenheiten, wie wir einen Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Die Kandidatur erfordert Zivilcourage und die Fähigkeit, die politischen Gegenkräfte richtig einzuschätzen. Der Druck von oben wird enorm sein. Nicht jeder ist dem gewachsen. Außerdem fehlte der Koalition ein politisches Programm.

Wie machen Sie jetzt weiter - als Einzelkämpfer?

Alleine? Nein, ich denke an eine neue Koalition, die auch für die demokratischen Parteien "Jabloko", "Union der Rechtskräfte" (UdR) und auch die Kommunisten akzeptabel ist. Aber auch Mitstreiter aus dem "Anderen Russland" sind willkommen.

Sind Sie auf Überraschungen im Vorfeld der Wahlen vorbereitet?

Wir sitzen schon über den Papieren, um ja keinen Vorwand zu liefern, wegen formaler Fehler aus dem Rennen geworfen zu werfen. Früher reichte es, wenn sich Parteien an die Verfassung hielten. Heute ist alles recht, was Konkurrenz ausschaltet. Wir haben gelernt, Überraschungsmanöver geschickter zu parieren.

Begegnet der Kreml der Opposition inzwischen nicht etwas gelassener? Nach den Zwischenfällen in St. Petersburg im März gab es Demonstrationen ohne Übergriffe der Miliz. Sind die Behörden klüger geworden?

Nein, im Gegenteil. Sie ziehen die Schrauben noch fester an. Der Druck auf die gegängelte Presse wächst und der Zustand des Justiz- und Gerichtswesens gleicht einer Farce. Richter weigern sich, Urteilsbegründungen zu veröffentlichen, weil sie nicht wissen, was sie schreiben sollen. Denn sie führen nur Order von oben aus. Wenn sie dies schriftlich begründeten, würden sie sich in der Fachwelt blamieren. Lieber lassen sie es gleich ganz sein.

Sie werden häufig mit dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko verglichen. Könnten Sie dessen Rolle in der Kiewer "Orangenen Revolution" in Russland übernehmen?

Wir haben ein paar biografische Gemeinsamkeiten, mehr nicht. Der Protest in Kiew war keine Revolution, sondern ziviler Massenprotest gegen permanente Rechtsverletzungen der Regierenden. In Russland wäre das unvorstellbar. Hier herrscht entweder Friedhofsruhe, oder der Feind wird mit der Mistgabel vernichtet. So weit darf es nicht wieder kommen. Allerdings schafft der Kreml, wenn er Bürgerrechte und Freiheiten beschneidet, langsam, aber stetig selbst eine vorrevolutionäre Lage.

Sie beklagen die Gleichschaltung der Medien. Dem früheren unabhängigen Fernsehsender NTW haben Sie als Premier aber die Kredite entzogen

NTW steckte damals in finanziellen Schwierigkeiten, und der Kreml war zu keinem Kompromiss bereit. Ich habe versucht, wenigstens das Team des Senders zu retten. Das ist ein heikles Thema, das auch mit persönlichen Verbindungen zu tun hatte.

Wenn Putin Ihnen im Februar 2004 nicht den Laufpass gegeben hätte, wären Sie trotzdem zur Opposition gegangen?

Mein Verhältnis zum Kreml hat sich erst nach der Geiselnahme von Beslan im Herbst 2004 gewandelt. Statt sich um Sicherheit zu kümmern, initiierte der Kreml Gesetze, die den Kern der Verfassung aushöhlten: Wahlrechtsänderungen, das Verbot unabhängiger Wahlbeobachter, ein restriktives NGO-Gesetz, Abschaffung der Gouverneurswahlen etc. Bis dahin schien mir der Kremlkurs nicht grundsätzlich falsch zu sein. Mir behagte das Vorgehen gegen einige Unternehmer nicht, aber ich war beileibe kein Oppositioneller. Spätestens nach Beslan hätte ich zurücktreten müssen. Das Wesen der Verfassung wurde über Nacht verändert. Von vier Jahren in der Regierung war ich dreieinhalb trotz allem überzeugt, wir hätten ein gemeinsames Ziel.

Moskaus Polittechnokraten impfen dem Wähler ein, er sei nicht reif für die Demokratie. Was halten Sie vom Volk?

Das ist Propaganda, die die Entwicklung der Gesellschaft einfriert. Die restriktiven Änderungen des Wahlrechts können auch als Angst vor der Reife des Bürgers interpretiert werden. So wurden Mehrparteienkoalitionen verboten und eine 7-Prozent-Hürde zur Duma errichtet. Die Verschärfungen führen dazu, dass die Stimmen von 40 Millionen Bürgern durch den Rost fallen. Das Parlament ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Politik hält den Souverän für keine ernst zu nehmende Größe.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.