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Archiv-Artikel

Stolpersteine für den Alltag

Der US-amerikanische Rabbiner Jacob G. Wiener, geboren in Bremen und 1939 nach der Reichspogromnacht geflüchtet, kam zurück in die Stadt, die seine Mutter ermordet hatte

Bremen taz ■ „Es gibt verschiedene Rassen. Die einen sind die Überlegenen, die anderen die Unterlegenen: Juden, Polen und Zigeuner.“ Das lernte Jacob G. Wiener, damals noch Gerd Zwienicki, in der Schule. Der jüdische Junge versuchte 1936 vergeblich, dem Lehrer zu erklären: Menschen haben Stärken und Schwächen, jeder ist mal über- und mal unterlegen, und jeder braucht den anderen.

Bei der gestrigen Gedenkfeier zum Jahrestag der Reichspogromnacht wiederholte er diese Sätze. Der Rabbiner aus den USA erinnert in seiner Geburtsstadt Bremen an den Tod seiner Mutter Selma Zwienicki am 9. November 1938.

Heute werden zum Gedenken an sie und drei weitere Opfer der Reichskristallnacht „Stolpersteine“ in Bremer Bürgersteige eingelassen. Dieses Projekt des Künstlers Gunter Demnig erinnert in 97 Städten an Opfer des Holocausts. Statt Denkmal-Pathos fordern die nur pflastersteingroßen Messingtafeln die Vorübergehenden heraus. Sie markieren die Adressen, wo die Opfer vor ihrer Deportation oder ihrem Tod gelebt haben. Nicht überall hat das Projekt Freunde gefunden: So kritisiert die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern die Symbolik der Steine, auf denen mit Füßen herumgetreten werde. In Bremen werden die „Stolpersteine“ aber mit dem Einverständnis der jüdischen Gemeinde verlegt.

Jacob G. Wiener wurde während seines Studiums acht Tage lang inhaftiert. „Wir sollten von allen Nachrichten abgeschnitten werden“, erkannte er später. Erst nach seiner Haft erfuhr er, dass inzwischen Synagogen angezündet, Juden deportiert und ermordet wurden. Ein SA-Mann hatte seine Mutter erschossen, weil sie sich weigerte, den Fluchtweg des entkommenen Vaters preiszugeben. Wiener und seinem Vater, der schon einmal vor antijüdischen Pogromen aus der Ukraine geflohen war, gelang die Flucht nach Nordamerika.

„Etwas wie der Holocaust kann noch einmal passieren“, ist der Rabbiner überzeugt. Die zahllosen Kriege seither beweisen, dass die Menschheit nicht hinzugelernt hat. Seinen Aufruf zu Frieden und Erinnerung diskutierte Wiener gestern Abend bei der „Nacht der Jugend“ im Rathaus mit jungen Bremerinnen und Bremern. Ein breites Kulturprogramm bot auch in diesem Jahr wieder Jugendlichen die Gelegenheit, das Gedenken an den Holocaust mit demokratischem Handeln zu verbinden und in ihre Alltagskultur zu integrieren. Annedore Beelte

Der Stolperstein für Selma Zwienicki wird am 10.11.2005 um 15.30 Uhr an der Hohentorstraße/Ecke Große Sortilienstraße verlegt, weitere Stolpersteine um 9.30 Uhr Dorfstraße 62, um 11 Uhr in der Bremerhavener Heerstraße 18.