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Archiv-Artikel

Nigerias Legende des Widerstandes

Vor zehn Jahren wurde in Nigeria der Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa gehenkt, der den Widerstand des Ogoni-Volkes im Niger-Flussdelta gegen die Schäden der Ölförderung anführte. Heute kommen Nigerias Ölgebiete trotz Demokratie nicht zur Ruhe

„Zehn Jahre später ist das Niger-Delta in größerem Chaos als je zuvor“

VON DOMINIC JOHNSON

Als Ken Saro-Wiwa zusammen mit acht Mitstreitern am 10. November 1995 im Morgengrauen gehenkt wurde, ging Empörung um die Welt. Die Hinrichtung des bekannten Schriftstellers, Vorkämpfer für die Rechte seines Ogoni-Volkes in den Ölfeldern des Niger-Flussdeltas, stellte Nigerias damalige Militärdiktatur ins internationale Abseits. Zehn Jahre danach, so schrieb jetzt der Nigerianer Remi Raji in einem Gedenkaufsatz, zieht Saro-Wiwa „immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, als Symbol des Kampfes für Selbstbestimmung; allmählich wird er zu einer Legende der nigerianischen Zeitgeschichte.“

Nigeria mit 120 Millionen Einwohnern ist der größte Ölproduzent Afrikas südlich der Sahara, aber die meisten der 23 Millionen Einwohner des Niger-Flussdeltas, wo das Öl herkommt, leben in absoluter Armut. Dagegen richtete sich 1995 Saro-Wiwas Protest, und heute hat sich daran nichts geändert – obwohl die Militärherrschaft in Nigeria 1999 zu Ende ging und seitdem der gewählte Präsident Olusegun Obasanjo regiert. So lautet jedenfalls das Fazit von Bürgerrechtlern aus dem Niger-Delta, die zum 10. Jahrestag von Saro-Wiwas Tod Deutschland besuchten.

„Zehn Jahre später ist das Niger-Delta in größerem Chaos als je zuvor“, erklärt die Journalistin Ibiba Don Pedro aus der Ölstadt Port Harcourt. „Wir haben keine Demokratie. Wir haben Zivilisten an der Macht, gestützt durch den brutalen Einsatz der Werkzeuge des Staates. Bei uns gelangen Leute an die Macht, um Zugang zu Öleinnahmen zu erhalten, und sie rekrutieren arbeitslose Jugendliche in Banden.“

Ben Naanen, Historiker und Aktivist der einst von Saro-Wiwa gegründeten „Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes“ (Mosop), konstatiert eine „subtilere Form der Repression“ und geißelt „eine Art Wegschauen“ der internationalen Gemeinschaft, die allein auf den Reformwillen Präsident Obasanjos setze. In Nigerias föderalem System haben die Gouverneure der 36 Bundesstaaten große Macht. Politische Reformen, wie sie der Staatschef auf nationaler Ebene vorantreibt, greifen dort selten. Vor allem nicht, so Naanen, im Niger-Delta, wo Obasanjos „Demokratische Volkspartei“ (PDP) die Politik im Griff hält und Wahlen fälscht.

Es geht nicht mehr darum, so Naanen, dass kein Ölgeld im Niger-Delta ankommt – ein viel größerer Anteil der Öleinnahmen als früher fließt an die Bundesstaaten zurück, und durchschnittlich verfügt jeder der sechs Provinzgouverneure der Region über 70 Millionen US-Dollar im Monat. Es geht darum, dass dieses Geld nicht in Entwicklung fließt. Der Gouverneur des Staates Bayelsa, der ärmste Bundesstaat der Region, sitzt seit September in London unter dem Verdacht auf Geldwäsche in Haft.

„Das System, Macht mit Gewalt zu sichern, hat sich nicht geändert, und jetzt geht es um viel mehr Geld“, erklärt Ibiba Don Pedro. Seit dem Ende der Militärherrschaft haben sich in ganz Nigeria ethnische Milizen außerhalb der legalen Strukturen gebildet. Im Niger-Delta führen diese Milizen einen Dauerkrieg gegen Nigerias Militär.

Vor einem Jahr machte die größte dieser Gruppen, die aus Jugendmilizen des Ijaw-Volkes hervorgegangene „Niger Delta People’s Volunteer Force“ (NDPVF) unter Alhaji Mujahid Dokubo Asari, Schlagzeilen, als sie kurzzeitig die Stadt Port Harcourt besetzte. Es folgten erste offizielle Verhandlungen mit der Zentralregierung. Aber dieses Jahr scheiterte eine von Präsident Obasanjo einberufene Reformkonferenz für Nigerias Verfassung an der leidigen Frage der „Ressourcenkontrolle“ – also der Verfügungsmacht über Nigerias Ölexporteinnahmen. Im September wurde Dokubo Asari verhaftet. Nun sitzt er in Nigerias Hauptstadt Abuja im Gefängnis und wartet auf den Prozess wegen Hochverrats, worauf die Todesstrafe steht. Vor wenigen Tagen trat er in den Hungerstreik. Parallel dazu wurden auch in anderen Landesteilen Milizenführer festgenommen.

Mit Dokubo Asari arbeitet nun also ein neuer politischer Führer aus dem Niger-Delta am Märtyrerstatus. Der Unterschied: Saro-Wiwa predigte den gewaltfreien Widerstand – Dokubo Asari brüstet sich der Macht seiner Privatarmee. Für Nigerias Zukunft bedeutet das nichts Gutes.