Debatte: Auch Arme können rechnen

Für Langzeitarbeitslose werden 100.000 Jobs geschaffen - zu Tariflöhnen. Das klingt gut - zerstört aber jeden Anreiz, sich eine andere Stelle zu suchen.

Der Arbeitsmarkt ist gespalten: Wie die Bundesagentur für Arbeit gestern bekannt gab, wurden im August 3,7 Millionen Arbeitslose gezählt. Das sind 666.000 weniger als noch vor einem Jahr. Doch die Langzeitarbeitslosen haben vom Aufschwung kaum profitiert. Es ist daher nur konsequent, dass die Agenda 2010 an entscheidender Stelle geändert wurde: Ab Oktober sollen 100.000 tarifentlohnte Jobs für Menschen geschaffen werden, die sonst keine Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hätten und bei denen das Konzept des "Fördern und Fordern" nicht greifen kann. Viele von ihnen leiden unter den Folgen einer psychischen Erkrankung, sind durch eine frühere Drogenabhängigkeit gezeichnet oder haben lange auf der Straße gelebt. Dieser soziale Arbeitsmarkt ist dringend nötig, denn die Erfahrungen von Integrationseinrichtungen zeigen: Regelmäßige Arbeit, Tagesstrukturierung und Anerkennung können auch Menschen zu beachtlichen Leistungen befähigen, deren Lage bisher aussichtslos war. Die Suchthilfe kommt zu ähnlichen Erkenntnissen: Wer Arbeit hat, wird weit seltener rückfällig.

Die 100.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse des sozialen Arbeitsmarkts werden bis zu 75 Prozent bezuschusst. Eine Anstellung erfolgt auf zwei Jahre, kann aber verlängert werden. Um gefördert zu werden, muss ein erwerbsfähiger Hilfeberechtigter mindestens ein Jahr lang arbeitslos gewesen sein. Zudem muss ihm sein Fallmanager von der Arbeitsagentur bescheinigen, dass er auch in den nächsten zwei Jahren keine reguläre Arbeit finden dürfte.

Neben diesen allgemeinen Kriterien muss der Arbeitslose noch zwei weitere "in seiner Person liegende Vermittlungshemmnisse" aufweisen. Allerdings werden diese im Gesetz nicht näher definiert. Das ist mit Risiken verbunden. So könnte beispielsweise ein Migrationshintergrund grundsätzlich als Hemmnis betrachtet werden. Doch ein älterer, nicht in Deutschland geborener Langzeitarbeitsloser sollte im sozialen Arbeitsmarkt nichts verloren haben, wenn er die Voraussetzungen für eine reguläre Beschäftigung mitbringt und über Leistungsbereitschaft sowie soziale Kompetenz verfügt. Natürlich würde man ihm eine Anstellung wünschen - aber wenn Migranten automatisch beim sozialen Arbeitsmarkt in den Kreis der Förderfähigen geraten, könnte die Versuchung für potentielle Arbeitgeber zu groß sein, eine bisher ungeförderte Arbeitskraft durch eine öffentlich geförderte zu ersetzen. Wer wirklich will, dass Menschen mit psychischer Erkrankung, nach einer überwundenen Drogenabhängigkeit oder Obdachlosigkeit eine neue Chance im sozialen Arbeitsmarkt erhalten, muss ein Interesse daran haben, dass sie dort nicht verdrängt werden.

Verfehlt ist, dass beim sozialen Arbeitsmarkt die gleichen Sanktionsregelungen gelten wie beim Arbeitslosengeld II: Fehlende Mitwirkung, die Nichteinhaltung von Terminen oder die versäumte Bereitstellung von Dokumenten führen zu Leistungskürzungen. Doch bei psychisch instabilen Menschen wird sich häufig erst während der öffentlich geförderten Beschäftigung zeigen, ob sie die dauerhafte Belastbarkeit für ein geschütztes Arbeitsverhältnis tatsächlich aufbringen können. Eine Person mit schweren Depressionen hat nicht die Möglichkeit, die Tragweite ihrer unterlassenen Mitwirkung einzuschätzen. Man kann hier nur auf die Vernunft im Gesetzesvollzug hoffen.

Es gibt noch einen weiteren Konstruktionsfehler: Wie schon erwähnt, wird nur eine Beschäftigung gefördert, die auf Tarifniveau oder nach dem ortsüblichen Niveau entlohnt wird. Wer sozial engagiert ist, wird dieser Bestimmung auf den ersten Blick zustimmen. Aber gegen die Tarifpflicht im sozialen Arbeitsmarkt sprechen mehrere Gründe: Sie senkt die Schranken gegen den Missbrauch. Ein Betriebsrat wird wenig dagegen einzuwenden haben, wenn sein Unternehmen öffentliche Förderung für eine Kollegin oder einen Kollegen erhält, solange dieser nach Tarif entlohnt wird. Die Verdrängung erfolgt ja meist nicht direkt durch Entlassung, sondern im Zuge von Fluktuation und Verrentung. Wenn der oder die Neue dasselbe mitbringt und dasselbe leistet wie die bisherige Kraft, dann ist die Tarifentlohnung natürlich geboten. Nur war das nicht die Idee eines sozialen Arbeitsmarkts.

Zudem: Auch der soziale Arbeitsmarkt sollte keine neue Welt schaffen, die hermetisch gegenüber dem regulären Arbeitsmarkt abgeschottet ist. Der Deutsche Caritasverband hat vorgeschlagen, beim sozialen Arbeitsmarkt die Entlohnung an den ALG-II-Anspruch eines Alleinstehenden zuzüglich eines Zuschlags anzupassen. Das wären etwa 750 Euro netto im Monat. Denn dies würde den anschließenden Übergang in den Tariflohn einer regulären Beschäftigung attraktiver machen. Natürlich geht dieses Argument bei Branchen ins Leere, in denen sich die Sozialpartner auf einen Tariflohn geeinigt haben, der auch bei einer Vollzeitbeschäftigung das soziokulturelle Existenzminimum eines Alleinstehenden nicht deckt. Aber es gibt wichtige Bereiche, in denen in der untersten Tarifgruppe deutlich mehr bezahlt wird. Dazu zählen etwa die vielen sozialen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, die auch heute nach Tarif bezahlen. Wer dort eine geförderte Beschäftigung im sozialen Arbeitsmarkt zu Tariflohn erhalten hat, wird verständlicherweise wenig Interesse haben, in einen schlechter bezahlten Job im Einzelhandel oder in der Logistik zu wechseln, auch wenn er auf den Schutz des sozialen Arbeitsmarkts nicht mehr angewiesen ist. Dann aber blieben die 100.000 Beschäftigungsplätze dauerhaft von denselben Menschen besetzt, andere kämen nicht zum Zuge.

Bei der Frage der Anreize allerdings scheiden sich die Geister. Sozial engagierte Leute bestreiten meist nicht, dass materielle Anreize motivierend wirken, solange es etwa um Manager geht - oder auch um sie selbst, wenn sie ehrlich sind. Aber bei den Armen? Darf man sagen, dass die geringen Zuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV eine der Ursachen sind, warum wir in Deutschland Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation weit schlechter in den Arbeitsmarkt integrieren können, als dies in anderen Ländern gelingt? Darf man über Anreizwirkungen der Tarifbindung im sozialen Arbeitsmarkt sprechen? Ja, man darf. Auch Arme können rechnen. Wer will, dass der soziale Arbeitsmarkt ein Erfolg wird und nicht in wenigen Jahren nach einer vernichtenden Evaluation wieder einkassiert wird - der muss seine soziale Einstellung mit der nüchternen Analyse ökonomischer Wirkungen und Nebenwirkungen verbinden. Nur wenn sich der soziale Arbeitsmarkt auf die Gruppe der bisher dauerhaft Ausgegrenzten beschränkt, wenn er nicht zur Verdrängung regulärer Arbeit missbraucht wird und wenn er zudem offen ist für den Übergang in reguläre Beschäftigung, werden die 100.000 geförderten Jobs eine soziale Zielsetzung erfüllen können. Die Chance hierzu gibt es.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.