„Staub ist keinem untertan“

Morgen hat auf dem Filmfestival in Venedig der Dokumentarfilm „Staub“ von Hartmut Bitomsky Premiere. Ein Gespräch über den Willen, Schönheit und Bedeutung kleiner Partikel zu entdecken

Hartmut Bitomsky kam am 10. Mai 1942 in Bremen zur Welt. Er studierte an der Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), wurde aber 1968 wegen politischer Aktivitäten relegiert. 1974 bis 1985 war er Mitherausgeber der Zeitschrift Filmkritik. 1993 ging er nach Los Angeles und wurde Dekan der „School of Film/Video“ in der Kunstakademie „CalArts“; 2006 übernahm er die Leitung der dffb. Sein Werk besteht aus Dokumentar- und Essayfilmen – unter anderem „Deutschlandbilder“ (1983, über Nazi-Kulturfilme), „Reichsautobahn“ (1986) und „Der VW Komplex“ (1989), „Die UFA“ (1992), „B-52“ (2000). Sein jüngster Film, „Staub“, hat morgen im Rahmen der Orizzonti-Reihe beim Filmfestival in Venedig Premiere. Es geht darin um Staub in allen seinen Facetten – vom Hausstaub über Kohlestaub, Asbest und Wüstensand bis hin zum Staub im All. Philosophische Reflexion und naturwissenschaftliche Erkenntnis werden konsequent ineinander geblendet.

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Bitomsky, das Staubkorn ist das kleinste Teil, das der Mensch mit bloßem Auge wahrnehmen kann. Wenn man einen Film über Staub dreht, wie geht man das Problem der Sichtbarkeit an? Wie macht man sichtbar, was beinahe unsichtbar ist?

Hartmut Bitomsky: Das war die größte Herausforderung. Beim Drehen habe ich mich manchmal verzweifelt gefragt: Wo ist der Staub? Der kommt im Film ja gar nicht vor. Außerdem hatten wir das Unglück, dass es ein sehr feuchter Sommer war, der letzte August, ein bisschen so wie in diesem Jahr. Überall, wo wir hingingen, war der Staub gebunden, er war irgendetwas Feuchtes am Boden. Hinterher habe ich entdeckt, dass wir den Staub in sehr vielen verschiedenen Medien behandeln können, ihn etwa im Voice-over heraufbeschwören. Oder wir zeigen Maschinerien, die Staub beseitigen, oder solche, die ihn erkenntlich machen sogar jenseits der Schwelle, wo er mit dem bloßen Auge sichtbar ist.

Sie gewinnen Ihrem Sujet sehr viele Facetten ab. Gibt es eine, die für Sie am Anfang stand und von der aus sich das Weitere entwickelt hat?

Es war weniger eine Facette als das Gefühl, dass ich einem Gefängnis entgehen konnte, in das sich jeder Dokumentarfilm begibt: Er hat ein Sujet, das fest umrissen ist. Staub hingegen ist vielförmig, mal ganz nah bei uns, wir erleben ihn jeden Tag, mal ganz weit weg, buchstäblich im Weltall. Deshalb habe ich die Möglichkeit gesehen, einen Film zu machen, in dem ich von Thema zu Thema springen kann. Die Idee, eine freiere Form zu wählen, hat mir ziemlich gut gefallen.

Auch in der freieren Form gibt es strukturierende Elemente. Wie haben Sie die gefunden?

Beim Schneiden. Es hat eine Weile gedauert, bis die Methode mir vom Film selber nahe gelegt wurde. Es gibt Strecken, wo das eine Kapitel den Aufbau für das nächste Kapitel stellt, und gleichzeitig gibt es Situationen, in denen man merkt: Jetzt einen Bruch zu haben, ist wunderbar. Zum Beispiel in der Szene, in der eine Kamera gereinigt wird. Daraus entwickelt sich ein kleines Kapitel über die Verwandtschaft von Staub und Filmstaub. Es endet mit dem Satz, dass Film Staub ist, der im Kino aufleuchtet. Dann schneiden wir zu einer Putzfrau.

Gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem, was Sie gedreht haben, und dem, was hinterher in Ihrem Film vorkommt?

Diskrepanz würde ich es nicht nennen. Es gibt einiges, was wir zweimal, an unterschiedlichen Orten, gedreht haben. Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass ich den Film ursprünglich für Amerika recherchiert habe. Durch verschiedene Gründe, unter anderem durch meine Rücksiedelung nach Berlin, ließ sich das nicht verwirklichen.

Sie hatten die entsprechenden Werke und die entsprechenden Wissenschaftler in den USA schon kontaktiert?

Genau. Ein bisschen haben wir dann versucht, alles in Deutschland oder in Europa wiederzufinden. Und tatsächlich, viele Sachen gibt es hier auch. Manches nicht, manches in einer anderen Dimension. Zum Beispiel zeigen wir bei der Bundeswehr, wie ein Staubtest für einen Granatwerfer veranstaltet wird. In den USA wäre ein ganzer Panzer im Staubkanal gewesen. Das ist schon ein wichtiger Unterschied.

Alles ist etwas größer.

Ja. Aber hier wie da sieht man die militärische Dimension.

Neben der naturwissenschaftlichen hat „Staub“ eine ausgeprägte philosophische Seite. Wie verhält sich die eine zur anderen?

Unsere Handlungen sind immer darauf ausgerichtet, Dinge in einen Sinn-, in einen Funktionszusammenhang zu setzen, was aber nicht restlos möglich ist. Es bleiben immer Sachen unberücksichtigt, Sachen, die nicht integriert werden können. Und das hat mich zu dem Gedanken von Raymond Queneau geführt: Es bleibt immer etwas übrig, womit wir nichts anfangen können, was uns nicht untertan ist.

Sie zeigen dazu ein Kehrblech, einen Kehrbesen und Staub am Boden. Nach jedem Aufkehren bleibt ein Streifen Staub zurück.

Aber das ist kein Grund zu sagen: „Ach, wir armen Menschen!“ Wenn etwas uns nicht untertan wird, ist das auch wie eine Befreiung. Wir können nicht alles instrumentalisieren.

Kann Staub schön sein?

Das muss man erst mal entdecken! Einer der Wissenschaftler zeigt auf seinem Bildschirm explodierende, sterbende Planeten und macht dabei sehr deutlich, dass diese Momente eine Schönheit haben. Direkter noch sieht man es, wenn Künstler aus Hausstaub Kunstwerke machen.

Aber auch in dem Kalkwerk, das mit den Ablagerungen weißen Staubs aussieht wie der Palast der Schneekönigin. Zugleich wird in dieser Szene die Giftigkeit des Staubs betont.

Man neigt dazu, immer nur eine Seite zu sehen. Sobald sich ein Widerspruch auftut, soll die andere Seite verschwinden. Hier lernt man: Man muss akzeptieren, dass es beide Seiten gibt. Eigentlich bedeutet das auch Freiheit für einen selber. Man kann seine Haltung gegenüber einer Sache ändern. Nur weil man einmal gesagt hat, etwas sei schlecht, muss man nicht sein Leben lang so darüber denken.

Die naturwissenschaftlichen Erläuterungen haben den Nebeneffekt, dass jemand, der wenig Vorbildung mitbringt, nicht immer folgen kann. Nehmen Sie das Nichtverstehen bewusst in Kauf?

Bewusst daran ist, dass ich denke: Man muss solche Momente aushalten können. Nicht alles, was man zum ersten Mal sieht, hört, schmeckt und riecht, kann man sofort verstehen. Mir geht es ja selber nicht anders, ich bin ja auch kein Physiker, kein Chemiker. Okay, ich habe mich ein bisschen damit beschäftigt im Vorfeld und weiß ein paar Dinge. Aber wenn ich ein Interview führe, passiert es schon, dass ich die falschen Fragen stelle. Dann werde ich von den Wissenschaftlern dabei erwischt, dass ich nicht ganz auf ihrer Höhe bin – kann ja auch nicht anders sein. Die wissen das und tolerieren mich.

Sie verknüpfen Ihre Ausführungen zum Staub immer wieder mit Geschichte und Niedergang der Industriearbeit. Warum ist es so interessant, sich damit zu befassen?

Weil deutlich wird, dass ein Zeitalter zu Ende geht. Und wir haben nicht die richtigen Werkzeuge, um anzupacken, was da im Dunkel vor uns liegt. Irgendetwas geschieht, ich stehe auf einem anderen Boden, und jetzt brauche ich andere Gerätschaften, um mich zu orientieren. Das gilt auch für das Filmemachen. Das Kino ist in den vergangenen 100 Jahren der getreue Korrepetitor des industriellen Zeitalters gewesen. Und jetzt müssen wir uns darauf gefasst machen, dass eine bestimmte Art von Filmemachen, eine bestimmte Art, den Blick auf die Welt aufzuzeichnen, zu Ende gehen.

In Ihrem Film sieht es manchmal aus, als produziere die alte Form der Arbeit ganz viel Staub, die neue Form gar keinen.

Ja. Aber das ist eine Täuschung.