: Der Mann, der Electro einen Sender gibt
NETZMUSIK Mit BLN.FM hat Tim Thaler Berlins einzigen Radiosender für elektronische Musik aufgebaut. Gesendet wird rund um die Uhr im Internet. Thaler verfolgt sein Projekt mit Hartnäckigkeit, aber ohne Geld, ohne Profis und vor allem ohne Mainstream
VON K.-W. BRANDENBURG
Tim Thaler steht am Fenster einer Parterrewohnung in Mitte und raucht. Manche Passanten schauen verstohlen an ihm vorbei in den Raum. Der ist karg eingerichtet, die Wände sind weiß, ein halbkreisförmiger Tisch aus Spanplatten steht in der Mitte. Darauf ein kleines Mischpult und ein Mikrofon. Es ist nicht Thalers Wohnung, in der er da steht und raucht, aber sein zweites Zuhause ist es schon: das Studio von BLN.FM.
Thaler ist fast täglich hier. Der schlanke 2-Meter-Mann trägt schwarz und sieht jünger aus als 38. Vielleicht liegt das an der Energie, die er versprüht, wenn er ohne Punkt und Komma von seinem Sender spricht und gar nicht mehr aufhören kann.
BLN.FM, das ist elektronische Musik in allen Spielarten, 24 Stunden am Tag, von House über Dubstep bis hin zu Minimal und noch schwerer Verdaulichem. Keine 80er, keine 90er und auch nicht das Beste von heute. Aber der Mut zur Nische wird honoriert: „Mittlerweile hören uns jeden Tag mehrere tausend Menschen“, sagt Thaler stolz. Das ist eine ganze Menge, vor allem, weil BLN.FM trotz „FM“ im Namen nur im Internet zu empfangen ist. Die Website bietet den Livestream, ein Sendungsarchiv und Lesestoff: Ausgehtipps ebenso wie selbst recherchierte Berliner Geschichten.
Natürlich macht Thaler das nicht allein, im Gegenteil: 118 Menschen sind derzeit dabei, „Studenten genauso wie Hartz-IV-Empfänger“. Thaler selbst und einige andere verdienen ihr Geld bei anderen Radiosendern, aber die meisten sind keine Profis. Sie arbeiten hinter dem Mikro oder im Hintergrund, gestalten eigene Shows, wählen die Musik aus oder schreiben für die Website. „Wer eine Idee für eine Show hat, kann im Netz unser Formular ausfüllen“, erklärt Tim Thaler. Schon viele Sendungen hätten es so zu BLN.FM geschafft.
Nicht immer war die Arbeit auf so viele Schultern verteilt. „Als ich angefangen habe, war ich jeden Tag 15 Stunden hier“, erzählt Thaler. Mittlerweile sei das weniger geworden, aber es gebe immer noch genug zu tun. Geld bekommen er und die anderen dafür nicht, sagt er. Weil keins da sei. Der Sender ist als gemeinnütziger Verein organisiert, aber die 60 Mitglieder zahlen maximal 5 Euro Beitrag im Monat – das reicht nicht mal für die Raummiete. „Bisher musste ich fast die Hälfte von meinem Gehalt spenden“, sagt Thaler. In dreieinhalb Jahren habe er trotzdem nie ans Aufhören gedacht. „Ich bin trotzköpfig“, sagt er. Eine Eigenschaft, die sich in seinem Leben schon oft bemerkbar gemacht hat.
Tim Thaler kommt im westfälischen Münster zur Welt, einer „mistigen Kleinstadt“, wie er findet. Mit 11 lernt er Schlagzeug und spielt fortan in Death-Metal-Bands. Gleichzeitig ist er Messdiener und lernt in der Kirche Orgelspiel und Gesang. Dann läuft er von zu Hause weg, lebt eine Zeit lang auf der Straße, fängt sich wieder. Im Jahr 2000 zieht es ihn nach Berlin, wo er zunächst bei einer Versicherung arbeitet. Nebenbei gründet er mit zwei Freunden eine Webdesignagentur, „3headz“ nennen sie sich. Und weil er mit dem Umzug in die Hauptstadt die elektronische Musik für sich entdeckt hat, machen sie als „3headz Radio“ zum ersten Mal so etwas wie Internetradio.
„Wir haben einmal im Monat DJ-Sets veröffentlicht“, sagt Thaler, „heute wäre das lächerlich.“ Ein paar Jahre später bot ihnen ein Vermarkter an, das Netzradio „groß rauszubringen“. Nach einigem Zögern lässt sich „3headz Radio“ auf den Deal ein und zieht in ein neues Studio, mit Glasfassade an der Spree, gegenüber von Universal. „Heute würde man sagen: Was haben wir für einen Scheiß gemacht damals“, meint Thaler. „Wir wussten überhaupt nicht, wie das funktioniert.“ Ein halbes Jahr lang geht trotzdem alles gut. Dann stellt sich heraus: Der Vermarkter versucht, mit Erotikwerbung im RTL-Nachtprogramm Geld zu verdienen. Und weil noch weniger Menschen „3headz Radio“ hören, als RTL-Nachtprogramm schauen, wird er so wütend, dass er zum Hammer greift und die Studioeinrichtung demoliert.
Thaler hätte sich damals die Sache mit dem Internetradio aus dem Kopf schlagen können. Aber weil er ein Trotzkopf ist, beschließt er noch mal von vorn anzufangen: „Die ganze Welt guckt auf Berlin und den Electro, der hier gespielt wird, aber im Radio läuft er nicht.“ Das will Thaler ändern. Er gibt den Job auf, den er zwischenzeitlich gefunden hat, lebt von Hartz IV und gründet 2009 mit seinem Mann einen neuen Sender für elektronische Musik: BLN.FM. Im Ausblutungskeller einer ehemaligen Fleischerei, in dem man nicht mal aufrecht stehen kann, bauen sie ein Studio und legen los.
Anfangs hat BLN.FM nur 20 Hörer pro Tag. Sie machen trotzdem weiter. Auch, als sie wieder umziehen müssen. Und wieder. Einmal, weil es für die Miete nicht mehr reicht, einmal, weil der Radiosender, bei dem sie untergekommen sind, dichtmacht. Schließlich landen sie in der Zehdenicker Straße in Mitte, von dort senden sie jetzt schon seit fast zwei Jahren.
Mit der Gema am Tisch
„Wir wollen Electro massenkompatibel machen“, beschreibt Thaler ihre Mission. Also letztlich auch nur ein Unterhaltungssender, bloß mit anderer Musik? „Wenn es etwas mit Substanz gibt, was zu vermitteln ist, versuchen wir, das kritisch zu vermitteln“, sagt Thaler. Etwa die Konsequenzen der Gema-Tarifreform: BLN.FM war der erste Sender, der Vertreter von Gema und Clubs an einen Tisch bekam – den Studiotisch in der Zehdenicker Straße. „Wir versuchen, objektiv zu sein und zu zeigen: Der eine ist nicht nur gut, der andere nicht nur böse.“ Gleichzeitig gibt Thaler zu: „Wir leben von Zuwendungen einzelner Leute, die uns wohlgesonnen sind.“ Erst vor Kurzem habe der Suicide Circus 200 Euro überwiesen. „Wenn das Geld knapp wird, gehe ich auch selber betteln“, sagt Thaler. Nur: Wie unabhängig kann man da noch berichten?
In nicht allzu ferner Zeit könnte die ewige Geldnot allerdings vorbei sein: Gemeinsam mit Flux FM plant Thaler den gemeinsamen Sender „Flux 2“, auf dem Sendungen von BLN.FM laufen sollen und dessen Musik von BLN.FM-Leuten ausgewählt wird. Dafür will Flux FM einen festen monatlichen Betrag zahlen – die Radiomacher bekämen zum ersten Mal Geld für ihre Arbeit. Und zwar ohne Unterschied: „Jeder, der nicht auf Flux 2 läuft und nicht vor dem Mikrofon steht, wird genauso viel bekommen wie alle anderen“, verspricht Thaler und schließt sich ausdrücklich mit ein.
Er wird sich an all seinen Versprechen messen lassen müssen. Vorerst aber hat er weiter mit den üblichen Widrigkeiten zu kämpfen. Vor Kurzem fiel auf einmal das Netz aus, für ein Internetradio der GAU. Erst nach fünf Tagen gab es wieder eine Verbindung. Trotzdem sagt Tim Thaler: „Bei uns ging es immer bergauf. Nur halt nie steil.“