: Im Schatten der großen Ideen
LITERATUR Die Komikerin und Schriftstellerin Ulrike Sterblich beschreibt in ihrem wunderbaren Buch „Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt“ ihre Kindheit und Jugend im spektakulär unspektakulären Westberlin
VON SUSANNE MESSMER
Da sitzen wir nun auf den kunstledernen Sofas mit den abgestoßenen Ecken in diesem Café direkt hinterm Heimathafen Neukölln. Das Café heißt „Sameheads ev“ und will ein Ort für „Fashion, art and events“ sein. Es wirbt mit selbst genähten Samtgardinen, Trockenblumen und Büsten unbekannter Männer im Schaufenster. Die Berliner Autorin Ulrike Sterblich, die schon lang nicht mehr unterwegs war in diesem Kiez, wundert sich ein bisschen. Sie denkt nach. Und fragt sich, ob die türkischen Mädchen mit den schicken Kopftüchern, die gerade vorüberflanieren, je einen Fuß in ein Café wie dieses setzen würden. Sie fragt sich, ob sie selbst in dieses Café gehen würde, wenn sie noch mal jung wäre an diesem Ort. Sie nippt an ihrer Schorle. Sie muss sich etwas ausruhen.
Müde ist Sterblich, weil wir anlässlich ihres neuen Buches „Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt“ über ihre Kindheit und Jugend in Westberlin den alten Schulweg der Autorin abgelaufen sind. Und alte Schulwege sind bekanntlich eine recht anstrengende Angelegenheit.
Wir fuhren mit der BVG bis zum U-Bahnhof Karl-Marx-Straße, wo sie kurz das Haus zeigte, wo sich, wie sie sagt, einmal eine spektakuläre Disko befand.
Wir nahmen den Herrnhuter Weg, gingen plaudernd vorbei an der Kindl-Klause, wo es eine „Hartz-IV-Lage“ mit „Molle und Korn für 2,50“ gibt.
Gingen eine Zeitlang einem Paar mit asymmetrischen Frisuren und spitzen Schuhen hinterher – wahrscheinlich Hipstern, nahmen wir an.
Und endlich schafften wir es bis zur katholischen Schule St. Marien, einem Gebäude mit eitergelben Klinkern und Kiesbetonplatten. Sterblich, die es bis dahin nicht sonderlich eilig hatte und eher schlendernd von diesen seltsamen Träumen erzählte, in denen man noch einmal Matheklausuren schreiben muss: Dieser Ulrike Sterblich konnte es auf der Höhe der Schule auf einmal nicht schnell genug gehen – so, als könnten da plötzlich doch noch alte Gespenster hinter einer Ecke auftauchen. Sterblich ist ihren alten Schulweg zum letzten Mal vor über zwanzig Jahren gegangen.
„Es hat sich einiges verändert“, stellt sie jetzt bei ihrer Schorle auf dem Kunstledersofa fest und seufzt. Es klingt fast ein wenig erleichtert – sei es, weil wirklich kein Gespenst kam, sei es, weil es auch egal gewesen wäre. Denn die Welt, in der sie Schülerin war, ist ein für alle Mal versunken. Dazu ist es hier viel zu widersprüchlich, zu aufregend geworden. Sterblich kommt zu dem Schluss: Das stinknormale Westberlin, das sie kannte, liebte und manchmal auch ein wenig hasste, das gibt es auch hier nicht mehr.
Das Buch, das Sterblich geschrieben hat, ist ein gleichermaßen lustiges wie melancholisches Buch, das eine starke Behauptung aufstellt: Nicht nur die Ostberliner haben ihre Stadt verloren. Auch Westberlin ist eine Welt, die nicht mehr existiert. Und außerdem: Westberlin bestand nicht nur aus den Subkulturen in Kreuzberg und Schöneberg, es war mehr als das Eldorado eines David Bowie, Iggy Pop oder Blixa Bargeld, mehr als eine Spielwiese der Verrückten, der Hausbesetzer, Punks und Bohemiens.
Sterblich hat es nicht so mit diesen Typen. Lieber beschreibt sie die Berliner Normalität, in der sie aufwuchs: über die katholischen Familien aus Ostpreußen im Neukölln der Nachkriegszeit, die Großfamilien gründeten wie später die sogenannten Gastarbeiter auch – nur dass man diese dann Clans nannte. Über das Erlebnisbad Blub in Britz, das 2003 Insolvenz anmelden musste, den Bierpinsel oder den Wasserklops vorm Europacenter – aber diese Piefigkeiten beschreibt sie mit einem derart trockenen Humor, dass man sich einfach dafür interessieren muss. Sterblich behauptet: Berlin war auch vor 1989 weit mehr als ein Mythos. Im Schatten der großen Ideen von Freiheit und Unabhängigkeit konnte man hier völlig unspektakulär aufwachsen.
Unspektakuläre Jugend? Ist das nicht eine ernüchternde Perspektive für all jene, die aus der Provinz kommen, weil sie bis heute glauben, Berlin bestünde ausschließlich aus wilden Geschichten?
Ein süffisantes Lächeln
Ulrike Sterblich denkt nach. „Ich fand diese Neuzugänge immer ein wenig überspannt“, erzählt sie auf dem Kunstledersofa, mit einem charmanten Schulterzucken und einem süffisanten Lächeln. Es ist ein Lächeln, das vom lebenslangen Vorsprung des Berliners berichtet, von seinem Wissen darum, dass am Ende jeder Hype vergeht. Sicher kam dieses Lächeln auch bei den Berlin Bunny Lectures zur Anwendung, dieser legendären, leider nicht mehr existierenden Show mit Experten zu Themen wie Hygiene, Adel, Wut und Zerstörung – in ihrer Funktion als Supatopcheckerbunny, als bühnenerprobte Komikerin sozusagen.
Dick auftragen ist nicht so das Ding von Sterblich. Es ist auch nicht die Sache von „Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt“. Eher nimmt das Buch den amüsierten Blick des Archäologen auf ein Fossil ein. Es ist trocken, lakonisch.
Schon im ersten Kapitel geht es los mit dieser Coolness: Sterblichs Alter Ego versucht kurz nach der Wende, mit einem Holger und einer Mariola nach Ostberlin zu fahren. Doch die drei kommen mit dem „Phänomen Straßenbahn“ nicht zurecht. Das Bier schmeckt nur „so mittel“, der Trip bekommt allmählich einen „Beigeschmack von Elendstourismus“. Am Ende meint sie: „Ich brauchte überhaupt kein neues Berlin, mein altes Berlin funktionierte noch sehr gut.“
Spätestens hier muss man ein wenig an die letzte Szene von Sven Regeners „Herr Lehmann“ denken, einem der erfolgreichsten Berlinromane aller Zeiten. Da landet der Held eines Abends wie so oft in einer Kreuzberger Kneipe und schaut kaum Richtung Fernseher, als die Mauer fällt.
Der Unterschied ist: Überall dort, wo Regener auf die Pauke haut, da wiegt Sterblich jedes Wort, nimmt sich zurück und erzielt damit die ungleich größere Wirkung.
Noch ein Beispiel: Ein Kapitel beschreibt die Begegnung mit einer Gruppe junger Leute in der U-Bahn. Diese Leute sind älter und mondäner als das Mädchen. Sie laden sie und ihre Freunde ein, ins Café Swing am Nollendorfplatz mitzugehen – in einen Laden also, der zu seinen Hochzeiten gern mit dem CBGB in New York verglichen wurde, wo alle Konzerte um ein Uhr nachts begannen und wichtige Berliner Bands ihre ersten Konzerte gaben.
In die Nacht hinaus
Unsere Heldin allerdings ist an diesem Abend mit anderem beschäftigt. Sie steigt in Alt-Mariendorf in ihren Bus, setzt sich oben ans Fenster und sieht in die Nacht hinaus. „Sie sieht die hellen Scheinwerfer auf der Trabrennbahn, die kleinen Seitenstraßen, die Wohnhäuser“: Sie fragt sich: „Hätte es sich gelohnt, irgendwo zu sein, wo ich vorher noch nie gewesen war?“
Wie Sterblichs junge Heldin aus dem Busfenster schaut auch Sterblich am Ende unseres Gesprächs noch einmal eine Weile aus dem Fenster des Cafés. Warum ist das eigentlich so, dass der Westberliner nie woanders sein will: dort, wo er noch nie gewesen ist? „Wo soll er denn hin?“, fragt Sterblich zurück.
Heute lebt Ulrike Sterblich übrigens in Ostberlin, in Prenzlauer Berg, um genau zu sein. Sie scheint sich dort ganz wohl zu fühlen – trotz der Schwaben, der Wecken, der Mütter. Der Heldin ihres Buches, dem jungen Mädchen, das ganz zufrieden ist mit seinem alten Berlin, dem wäre das wahrscheinlich nicht passiert.