Altphilologe Canfora über Demokratie: "Es gibt eine Form der Sklaverei"

Demokratie ist vor allem eine Herrschaftsform. Heute schließt sie die Ausbeutung der "Dritten Welt" ein, so der streitbare italienische Altphilologe Luciano Canfora.

Wichtigster Vordenker der griechischen Demokratie: Aristoteles Bild: ap

taz: Herr Canfora, Sie haben ein Buch über die Geschichte der Demokratie geschrieben, das seinerzeit in Deutschland für einige Diskussionen gesorgt hat. Der Verlag C. H. Beck weigerte sich, es zu veröffentlichen. Warum?

Luciano Canfora: In dem Buch beschreibe ich Demokratien in der Antike, insbesondere die Griechenlands, und von der Französischen Revolution bis heute. Es ist also keine vollständige Geschichte der Demokratie - aber so war der Auftrag von Jacques LeGoff, dem Herausgeber der Reihe, in der das Buch erscheinen sollte. Die Ablehnung des C. H Beck Verlags bezog sich wohl auf meine Idee von Demokratie. Meine Idee ist nicht die parlamentarische Demokratie, sie bezieht sich auf die aristotelische Sicht: Demokratie ist die Herrschaft der Besitzlosen, Oligarchie die Herrschaft der Reichen. Das hat nicht gefallen.

Das italienische Original trägt den Titel "Die Demokratie. Geschichte einer Ideologie". Warum?

Das war die Entscheidung des Verlags. Es ist ein provokanter Titel, aber auch ein wenig banal. In meinen Büchern habe ich nie von Ideologie gesprochen. Demokratie ist weder eine Ideologie noch eine Regierungsform oder ein Verfassungstyp. Demokratie ist eine Form von Herrschaft, die einer anderen Form von Herrschaft gegenübersteht. Demokratie kann in einem Königreich herrschen, und Oligarchie in einer Republik. Der Kern meiner Reflexion ist, dass die westliche Demokratie mit Reichtum verbunden ist - das schließt auch die Arbeiterklasse ein. Im alten Rom wurden die Plebejer immer reicher und so zu einem Teil der Gesamtherrschaft. Dasselbe ist in der westlichen Welt passiert. Daher hat die Demokratie als Herrschaft der Besitzlosen keine Zukunft bei uns.

Sie betonen in Ihrem Buch den antirassistischen Charakter der Französischen Revolution. Warum?

Wegen des Kampfes gegen die Sklaverei. Liberalismus bedeutet manchmal eben auch Sklaverei in den Kolonien. Es war das Verdienst von Robespierre, Danton und Co, dass die Sklaverei in den Kolonien beendet wurde. Als England die Kolonien übernahm, weil sich Frankreich in Schwierigkeiten befand, wurde dort die Sklaverei wieder eingeführt. Der eigentliche Gegensatz besteht zwischen Liberalismus und Demokratie. Das sind die großen Richtungen des 19. Jahrhunderts, und das ist auch der Kern meines kleinen Buches.

Sie schreiben, dass Sklaverei und Freiheit notwendig zusammengehören. Warum?

Das ist ein Zitat von Leopardi, einem Denker des 19. Jahrhunderts. In Athen waren Sklaverei und Freiheit bekanntlich miteinander verbunden. Ich glaube, das gilt auch heute noch für das Verhältnis zwischen Erster und Dritter Welt. Die Freiheit der Ersten Welt hat ihre Wurzeln in der Sklaverei der Dritten Welt. Denn es gibt vor allem im wirtschaftlichen Bereich eine Form der Sklaverei.

Das ist eine harte Kritik an den westlichen Demokratien. Übertreiben Sie nicht?

Bei den Beziehungen der abhängigen Welt - verwenden wir einmal diesen hässlichen Ausdruck - zu der reichen Welt geht es darum, dass Rohstoffe aus den abhängigen Ländern weit unter Kosten von den reichen Ländern gekauft werden. Gestützt wird diese Ungerechtigkeit durch die militärische Kraft insbesondere der USA. Wenn etwa Erdöl zu den Gestehungskosten eingekauft werden müsste, dann zwänge das die reichen Länder in die Knie. Von dieser globalen Ungerechtigkeit profitieren auch die Nichtbesitzenden in den reichen Ländern. Was dieses Verhältnis stört, sind die Immigranten aus den armen Ländern, die bei uns die neuen Sklaven sind, die zu unakzeptablen Arbeitsbedingungen ihrem Broterwerb nachgehen. Das gesamte Bild ist keineswegs positiv.

Und welche Rolle spielt die politische Linke in diesem Prozess?

Es hat nie eine einheitliche Linke gegeben. Als ich jung war, gab es in Deutschland eine bedeutende sozialistische Partei. Allerdings hatte die SPD schon vor ihrer Wende zur Mitte in Bad Godesberg 1959 einen Transformationsprozess durchlaufen. Die Parteien mussten immer wieder das Ladenschild wechseln. Aber das waren Scheinlösungen. Jetzt geht es nur noch darum, die Maschinerie am Laufen zu halten. Das ist die Endstation, an der die reformistischen linken Parteien heute angelangt sind.

Der britische Historiker Donald Sassoon meint, dass die schiere Existenz der Sowjetunion und des Realsozialismus seinerzeit dazu beigetragen hat, dass in den westlichen Ländern ein Sozialstaat entstand. Sehen sie das auch so?

Ja, ohne Systemalternative hätte es keine Notwendigkeit gegeben, den Sozialstaat zu errichten. Das war positiv. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt liegt ein neues Blatt vor uns, das wir beschreiben müssen.

Der C. H. Beck Verlag hat ihr Buch wegen stalinistischer Tendenzen nicht veröffentlicht. Der als eher links geltende Historiker Hans-Ulrich Wehler hat Ihnen Dummheit vorgeworfen, während der Konservative Ernst Nolte Sie als kenntnisreichen Gelehrten verteidigt hat. Hat Sie diese Konstellation überrascht?

Keineswegs. Ich könnte mich aus der Affäre ziehen, indem ich Mao zitiere, der gesagt hat, er spreche lieber mit den Konservativen, weil deren Rede wenigstens klar sei. Hans-Ulrich Wehler wurde immer von den italienischen Linken bewundert, besonders sein Werk über das Wilhelminische Reich. Doch nach der Wiedervereinigung 1990 hat Wehler seine Position gewechselt und die sozialistische Erfahrung verurteilt. Das ist nicht mein, das ist sein Problem. Nolte wiederum, der mit Vorwürfen überhäuft wurde, er sei politisch völlig neben der Spur, hat den Vorzug, dass er gegen den Strom schwimmt.

Der Stalinforscher Robert Conquest hat Ihnen vorgeworfen, "stalinophil" zu sein. Sie wiederum haben die Autoren des "Schwarzbuchs des Kommunismus" kritisiert, weil diese es sich auf dem Richterstuhl bequem machen, statt zu fragen, warum die Menschen damals so und nicht anders handelten. Aber gerade wenn man dies verstehen will, muss man sich dann nicht besonders intensiv mit der Zeit des Massenterrors in der Sowjetunion beschäftigen?

Ich verstehe Ihre Frage vollkommen. Der erstgenannte Vorwurf war vorauszusehen. Ich möchte Ihre Frage beantworten, indem ich auf den bekannten Forscher Vittorio Strada hinweise, der von der PCI kam und später zu antisowjetischen Positionen überging. Er hat eine Definition vorgeschlagen, die ich sehr gut finde: Stalin sei ein großer Revolutionär, ein großer Staatsmann und ein großer Verbrecher gewesen. Stalin hatte es damals nicht gerade mit zartbesaiteten Gegenspielern zu tun. 1944 hat das amerikanische Magazin Time in Kenntnis all der Schrecken und der Schauprozesse in Moskau Stalin gleichwohl zum Mann des Jahres erklärt. Sie haben das Pro und Contra abgewogen, um ihn dann doch zu einem großen Mann zu erklären. Ich würde sagen, wir sollten uns von vorgeprägten Schemata lösen und die Männer in der Geschichte danach beurteilen, was sie waren und was sie geleistet haben. Ob ich damit nun als stalinophil bezeichnet werden kann, sei dahingestellt. Dieses Etikett interessiert mich aber recht wenig.

INTERVIEW: ULRICH GUTMAIR

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