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Plötzlich diese Intensität

Was ist das Faszinierende an Osteuropa? Ist es die Suche nach dem eigenen Orient oder die neue Aktualität von Mitteleuropa nach dem Ende des Eisernen Vorhangs? Ein Bekenntnis

Die einen trinken gerne Cappuccino, die anderen mögen löslichen Kaffee

VON UWE RADA

Eines frühen Morgens, bei Wodka und Bouletten auf einer Hochzeitsfeier im hügeligen Umland von Danzig, fragte mich die polnische Freundin eines Kollegen: „Was sucht ihr eigentlich bei uns? Was fasziniert euch am Osten? Geht es um uns oder doch nur um euch und um euren Orientalismus?“

Anstatt zu antworten, schaute ich mich um. Vom Wodka abgesehen, hätte die Hochzeitsgesellschaft auch in Berlin stattfinden können. Aus den Lautsprechern lärmte keine Polonaise, sondern „We will rock you“, vor der Gaststätte parkten Mittelklassewagen. Über die Kaczyńskis und ihren nationalen Provinzialismus haben die meisten nur gelacht. Die Frage war berechtigt. Was suche ich im östlichen Mitteleuropa, während der Osten längst im Westen weilt?

Zugegeben, die Frage ist nicht neu. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren beschäftigen sich die Feuilletons mit den tektonischen Verschiebungen in Europa nach dem Fall der Mauern und Grenzen nach 1989. Was bringen die Länder des ehemaligen „Ostblocks“ mit bei ihrer „Rückkehr nach Europa“? Eine eigene Erfahrung mit Diktatur und ihrer Überwindung und damit auch die Botschaft, gegenüber Russland einen kritischeren Kurs einzuschlagen, wie die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete meint?

Ist es ein Mehr an Geschichte, Ruinen und ungelösten Konflikten, wie der ukrainische Autor Jurij Andruchowytsch glaubt? Oder ein vor allem in den Städten sichtbares kulturelles Erbe, an das nach 1989 nahezu nahtlos angeknüpft werden könnte, wie der Osteuropahistoriker Karl Schlögel behauptet?

In diesen Mutmaßungen schimmerte schon der Kern der Frage durch, die mich bei der Danziger Hochzeit so unvorbereitet erwischte: Was bleibt von Ostmitteleuropa, außer den Hinterlassenschaften der Geschichte, wenn es seinen Marsch nach Westen beendet hat? Ist „der Osten“ dann nur mehr die Projektion zivilisationsmüder und Abenteuer suchender Westler? Oder kann er, auch aufgrund seiner historischen Erfahrungen, etwas Eigenes behaupten irgendwo im schwer definierbaren Etwas zwischen Deutschland und Russland?

Wer mir bei der Annäherung an solche Fragen sicher kein guter Ratgeber ist, ist der polnische Autor Andrzej Stasiuk. Wäre er nicht in Warschau geboren und irgendwann in die Beskiden nahe der slowakischen Grenze gezogen, würde ihm das Feuilleton seine nostalgieschweren Last&Lost-Reportagen aus der „Welt hinter Dukla“ um die Ohren hauen. Ganz gleich, ob in Polen, Rumänien oder Albanien: Stasiuk kommt, sieht und trauert über eine Welt, die es bald nicht mehr gibt. So aber ist er Everybody’s Darling. Der Archäologe des Untergangs, der Orientalist aus dem Orient. Den hätte die Freundin des Kollegen mal zwischen die Finger kriegen sollen.

Wenig hilfreich ist aber auch die Faszination derer, die mit Milton Friedmann und gefüllten Scheckbüchern im Gepäck durch den ehemaligen Eisernen Vorhang schlüpfen, gebannt auf die Skyline des neuen Warschau schauen und voller Lob über die Dynamik des neuen Europa auf billige Löhne und EU-Fördermittel schielen.

Und dann gibt es da noch die Naturschützer, Ornithologen und Wolfsforscher, die in den letzten Urwäldern Europas nach der Wildnis suchen, die es im Westen längst nicht mehr gibt. Ich kann sie verstehen. Meine Sache ist das nicht.

Eher schon ist mir die Arbeit jener kulturellen Übersetzer ein Vorbild, deren Job die großen Missverständnisse sind, die beim Zusammenwachsen Europas immer wieder zu Stolpersteinen werden. Ist Polen unter den Kaczyńskis wirklich so undankbar gewesen? Warum trauen Esten und Letten nicht einmal den Russen im eigenen Land? Wo hört in der Ukraine die Geschichte auf und wo fängt die Gegenwart an?

Sind die noch immer existierenden Märkte und Basare im Osten ein Hinweis auf den finalen Siegeszug des Kapitalismus? Oder sind sie auch Ausdruck einer Überlebensökonomie, die bald auch den Westen erreichen wird? Und wenn ja, was heißt das für eine nichtprotektionistische, weltoffene, europäische Linke?

Zu dieser Übersetzerarbeit gehört auch der Hinweis auf eine Suchbewegung, die seit einiger Zeit in Mittel- und Osteuropa selbst zu beobachten ist. Im Zentrum dieser Bewegung steht die multikulturelle Vergangenheit, die diesen Teil Europas bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Voller Staunen entdeckt man in Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine wieder die Geschichte des Großfürstentums Litauen und der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in der Polen, Litauer, Juden, Weißrussen, Ukrainer und Russen lebten – bis Preußen, Russland und die Habsburger Monarchie das Experiment beendeten und Polen-Litauen unter sich aufteilten.

Wie aktuell der Hinweis auf diese „sarmatischen Landschaften“ ist, zeigt auch der gleichnamige Sammelband, in dem der Österreicher Martin Pollack polnische, litauische, weißrussische und ukrainische junge Autoren über das Erbe dieser einst von Reiterkriegern bewohnten Ebene zwischen Ostsee und Schwarzem Meer sinnieren lässt. Dieses Mitteleuropa, zu Zeiten des Kommunismus von polnischen Intellektuellen im Pariser Exil gefeiert, hat nichts von seiner Faszination verloren. Es ist der Ausgangspunkt zum Nachdenken über ein Europa geworden, in dem die ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts zwar Realität, aber längst nicht das letzte Wort der Geschichte sind.

Warum Osten, hätte ich der polnischen Freundin des Kollegen in Danzig antworten sollen, es geht um die Mitte – als Alternative zum gesättigten, geschichtslosen Westen und dem nach wie vor imperialen Anspruch Russlands im Osten.

Natürlich wäre das nur die halbe Wahrheit gewesen. Natürlich erklärt „Mitteleuropa“ nicht, warum der Wechsel der Sprache, der Dorfnamen und Autokennzeichen nach dem Überschreiten der Grenze zwischen Deutschland und Polen oder Deutschland und Tschechien dieses Gefühl von, ja, Intensität auslöst. Nicht mehr die lieb gewonnenen Dinge (sagen wir ruhig: der Fetisch Ware) stehen plötzlich im Mittelpunkt, sondern Menschen, Orte, Landschaften in ihrer ganzen oft gewöhnungsbedürftigen Unmittelbarkeit.

Ich weiß nicht, ob das Erleben dieser Intensität aus meiner Kindheit rührt, als wir noch in den Sechzigern ein paarmal die Verwandten in der ČSSR besucht hatten. Die raue Wildheit des Riesengebirges, die fremde Sprache (und das lustige Deutsch), die Entfernung von zu Hause: Das sind nicht nur bleibende Bilder, es sind meine ersten Erinnerungen überhaupt. Gut möglich, dass da also ein paar Kindheitserinnerungen die Vorlage für spätere Déja-vu-Erlebnisse abgaben – obwohl die Biografien meines Vaters und seiner Eltern, die 1951 von der ČSSR nach Westdeutschland kamen, keine Rolle spielen bei meiner Beschäftigung mit Osteuropa.

Es es geht um die Mitte – als Alternative zum gesättigten, gesichtslosen Westen

Dennoch ergreift mich dieses fast kindliche Staunen immer wieder, wenn im letzten staubigen Winkel eines letzten gottverlassenen Dorfes irgendeiner eine einladende Handbewegung macht und ich plötzlich mittendrin bin in einer Welt, die ich sonst nie mit dem eigenen Zuhause tauschen möchte. Genauso staune ich übrigens über die Tatsache, warum die einen lieber ihren Cappuccino in der Toskana trinken als den löslichen kawa rozpuszczalna irgendwo an der litauischen Grenze.

Und noch etwas, ich gebe es zu, treibt mich in den Osten. Es ist die Wucht, mit der die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts auf Städte und Regionen trifft, in der vielerorts die Zeit noch stehen geblieben scheint. Die Folge ist eine dramatisch wachsende Ungleichheit zwischen Wachstumszentren und Regionen mit zunehmender Bedeutungslosigkeit. Das ist nicht schön, erst recht ist es nicht wünschenswert. Dennoch lässt sich von diesem ungebändigten Kapitalismus auch etwas lernen – zum Beispiel, wie das Internet in Estland nicht nur den Eliten nützt, sondern in den peripheren Räumen auch gesellschaftliche Teilhabe sichert.

Vielleicht hätte ich an jenem frühen Morgen in der Nähe von Danzig aber auch einfach antworten sollen: „Es geht weder um euch noch um uns, sondern um mich. Vielleicht suche ich wirklich meinen eigenen Orient und finde ihn dort, wo es noch Entschleunigung und Stillstand gibt. Und Kulturlandschaften, die noch nicht erschlossen sind von jener Ökonomisierung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bis zum letzten Winkel des Seins vorzudringen.

Hätte mich die polnische Freundin des Kollegen verstanden, wenn ich ihr gesagt hätte, dass es im Osten nicht nur Antworten gibt, sondern auch Fragen, und man nicht nur findet, was man sucht, sondern auch suchen kann, ohne etwas – oder etwas ganz anderes – zu finden?

Hätte auch das keinen Erfolg, bliebe mir immer noch die Flucht nach vorn: „Was meinst du, warum so viele Polen, die noch vor kurzem in England ihr Glück suchten, heute wieder in ihre Heimat zurückkehren?“

„Jetzt“, würde ich dann, wahrscheinlich wieder beim Wodka, lächeln, „jetzt bist du am Zug.“

Uwe Rada (45) ist Redakteur der taz und veröffentlichte zuletzt mit Inka Schwand: „Baltische Begegnungen. Unterwegs in Estland, Lettland und Litauen“. Bebra 2008, 144 Seiten, 80 Abbildungen, 16,90 €

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