die wahrheit: Geste 2010

In der deutschen Komödie "Herr Lehmann" gibt es einen bezeichnenden Fehler. Der Film aus dem Jahr 2003 spielt in den Achtzigerjahren im Westberliner Szenemilieu...

In der deutschen Komödie "Herr Lehmann" gibt es einen bezeichnenden Fehler. Der Film aus dem Jahr 2003 spielt in den Achtzigerjahren im Westberliner Szenemilieu. Wenn sich die Freunde abends in ihrem Kreuzberger Stammlokal treffen, schütteln sie sich zur Begrüßung die Hand. Das aber war im Westberlin der Achtzigerjahre absolut unüblich. Nach der innigen Nähe der Siebzigerjahre mit ihren warmen Umarmungen war man in den Achtzigern cool und distanziert, selbst für gute Freunde hatte man allenfalls ein kurzes Nicken übrig, und nur Idioten, Provinzler oder Geschäftsleute wurden in der Kneipe per Handschlag begrüßt - meistens traten dann alle drei in einer Person auf.

Schuld an diesem Fehler ist der Regisseur Leander Haußmann, der wie das Händeschütteln nach dem Mauerfall in Mode kam. In den Neunzigerjahren war es zunächst nur eine ironische Geste, die den Osten, wo sich die proletarische Tradition des Händedrucks erhalten hatte, imitierte. Doch schnell wurde das Händeschütteln zum Signal der Neusortierung. Die einen ahnten, dass ihr Bohème-Leben so nicht weitergehen konnte, und die anderen merkten, dass sie jetzt arbeitslos werden würden. Der Handschlag besiegelte den totalen Umbruch. Der ostdeutsche Regisseur Haußmann aber inszenierte das wunderbare Buch von Sven Regener als Vereinigungsklamotte. Seine fatalen Regiefehler verschleierten die wahre Kluft zwischen zwei sich bis in die Gesten fremd gewordenen Bevölkerungsteilen.

Mit dem neuen Jahrtausend kam dann eine gar nicht so neue Begrüßung wieder auf: die Umarmung. Ständig umarmen sich seither selbst Wildfremde. Das hat viel mit der Retrowelle und den Siebzigerjahren zu tun, hineinspielt aber auch das türkisch-arabische Element des Mehrfachbusselns, das von Jugendlichen gern genutzt wird, um sich nahezukommen. Und selbstverständlich ahmen gerade die Jungen ihre Vorbilder aus Filmen oder Musikvideos nach, die hippen Gangsta-Rapper und Mafiosi: Dann ergreifen sie die angewinkelte Rechte ihres Gegenüber, ziehen den eher steifen Oberkörper heran, während die Linke den Rücken des so Umschlungenen abklopft. Das ist ganz großes Schauspiel, so stellen sich unsere Klein-Gangsta die gefährliche weite Welt vor.

Und was bringt das nächste Jahrzehnt? Eigentlich müssten die Achtzigerjahre und ihre Coolness wiederbelebt werden - womöglich ergänzt um den Handkuss und den Kratzfuß zur Begrüßung. Oder man greift ins Gesicht des Gegenüber, nimmt ein Stück Wangenfleisch zwischen Mittel- und Zeigefinger und schüttelt es hin und her, bis die Lefzen schmatzen.

Mein Favorit für die Geste 2010 ist die chinesische Begrüßung. Angeblich soll es ja das Jahrhundert der Chinesen werden. Also müssen wir im Zeichen der Globalisierung unser Gegenüber ganz anders begrüßen: Ich hebe meine linke und meine rechte Faust auf Augenhöhe, presse beide Knöchel gegeneinander und verbeuge mich dahinter mit einem kurzen, aber energischen Kopfnicken. Das könnte dann Leander Haußmann in einer seiner Komödien als typische Geste der Neunzigerjahre verwenden. Für ihn war sie sicher damals schon vorhanden.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.