: Dahin gehen, wo’s wehtut
SCHMERZEN Chronische Leiden werden zunehmend mit Medikamenten behandelt, die lediglich die Symptome beseitigen. Oft liegt die Lösung jenseits des rein Organischen
VON OLE SCHULZ
Dass die Einnahme starker Schmerzmittel auf Dauer suchtbildend und gesundheitsschädigend ist, ist weithin bekannt. Trotzdem werden in Deutschland so viele starke Analgetika verschrieben wie nie zuvor: Laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) gaben die Apotheker 2011 6,3 Millionen entsprechende Verpackungen an Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen heraus – 2005 waren es 4,2 Millionen.
Ein Grund dafür ist, dass gerade bei chronischen Schmerzen die genauen Ursachen oft nicht herauszufinden sind. Dann ist so manch ratloser Arzt schnell mit Schmerzmitteln zur Hand – wenn nicht, wie bei Rückenleiden, sogar eine Operation empfohlen wird. So steigt auch deren Zahl: Nach einer Studie der Barmer GEK aus dem Vorjahr wurden 2006 lediglich 65 von 100.000 Versicherten an der Bandscheibe operiert, 2010 waren es bereits 90.
Professor Gustav J. Dobos, Leiter der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Klinken Essen-Mitte, hält das für eine zweifelhafte Entwicklung: „Chronische Rückenschmerzen zum Beispiel sind meistens nicht organisch bedingt“, sagt Dobos, da würden Schmerzmittel zwar kurzfristig Linderung, aber keine wirkliche Heilung bringen. „Zu uns kommen viele Patienten, die von Schmerzmitteln loskommen wollen oder nach einer Operation weiter Schmerzen haben.“ Besser als eine langfristige Verschreibung von Schmerzmitteln oder vorschnelle Operationen sei es darum, ganzheitlich gegen die Schmerzen anzugehen. Die Naturheilkunde bietet hier laut Dobos viele Möglichkeiten an, von Yoga über Manualtherapie bis zu Akupunktur.
Naturheilkundliche Therapien gehen dabei grundsätzlich anders als die Schulmedizin an Schmerzsyndrome heran. Der Schmerz werde, so Dobos, als „Aufschrei des Körpers“ verstanden. Dieser habe seine Ursache in einer „körperlichen oder seelischen Dysbalance“, die es auszugleichen gelte. Und anders als häufig angenommen, ist die Wirkung naturheilkundlicher Schmerztherapien wissenschaftlich relativ gut evaluiert – zum Teil sogar besser als die schulmedizinischen Ansätze, meint Dobos.
Die Essener Klinik ist eine der führenden Institutionen Deutschlands bei der Erforschung der Naturheilkunde – 1999 wurde sie als Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Ziel gegründet, optimale Behandlungsansätze aus konventioneller Medizin und wissenschaftlich evaluierter Naturheilkunde zu kombinieren.
Unter anderem wurde hier eine groß angelegte Vergleichsstudie zum Nutzen von Yoga bei der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten durchgeführt – mit einem positiven Ergebnis: Bei Problemen im Nacken oder Rücken würden sich durch Yoga „Schmerzen und funktionelle Einschränkungen verlässlich und deutlich verbessern“, sagt Holger Cramer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Autor der Studie. Wie Yoga genau wirke, sei zwar noch nicht hinreichend untersucht, aber laut Cramer kann man vom Zusammenwirken mehrerer Komponenten ausgehen: Zum einen helfen die Übungen gegen muskuläre Verspannungen. Zum anderen würden die dazugehörigen Atem- und Meditationsübungen zusätzliche Entspannung bringen. Anhaltende Verbesserungen gebe es vor allem bei jenen Schmerzpatienten, so Cramer, die Yoga „regelmäßig und dauerhaft praktizieren“.
Dieser Befund wird durch eine neue Studie der Essener Klinik untermauert, für die ausführliche Interviews mit Schmerzpatienten geführt wurden: „Durch Yoga ändert sich die Körperwahrnehmung, und viele achten dann zum Beispiel auch im Alltag mehr auf ihre Körperhaltung“, fasst Cramer zusammen. Denn ohne Veränderung der Bewegungs- und Haltungsmuster – manchmal auch der inneren Haltung – ist chronischen Schmerzen nur selten beizukommen.
Neben Yoga gibt es noch eine Reihe anderer naturheilkundlicher Schmerztherapien – die Psychologin Frauke Musial fasst sie unter dem Oberbegriff „Reflextherapien“ zusammen. Dazu zählen laut Musial klassische Massagetechniken ebenso wie die Gua-Sha-Massage, die Akupunktur und Akupressur bis hin zur Fango-Wärmebehandlung oder dem Schröpfen. Bei all diesen Ansätzen werden durch „Manipulationen und Deformationen der Haut und des tiefer liegenden Gewebes“ die entsprechenden Nervenrezeptoren gereizt. Als positive Folge würde dadurch die „Sensitivität für Schmerzen gesenkt“, sagt Musial, die als Professorin die wissenschaftliche Abteilung des renommierten Nationalen Forschungszentrums für Komplementär- und Alternativmedizin Norwegens (NAFKAM) leitet und dort zum Thema Reflextherapien forscht. Deren Wirksamkeit sei – ähnlich wie bei Yoga – „zum Teil gut belegt, ohne dass die neurobiologischen Grundlagen dieser Verfahren bekannt sind“. Wer nun selbst unter chronischen Schmerzen leidet und starke Analgetika nimmt, dem sei angeraten, bei seiner Krankenkasse anzufragen, ob diese auch für naturheilkundliche Schmerztherapien aufkommt. Denn ob zum Beispiel die Kosten einer Akupunktur-Behandlung übernommen werden, ist abhängig vom Krankheitsbefund und der jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse. Auch Yoga-Kurse werden im Rahmen der Gesundheitsprävention mittlerweile von vielen Krankenkassen zum Teil oder ganz bezahlt.