: Als alle Dinge verschwanden
Ein nächtlicher Besuch bei einem Wittgenstein-Experten und die Folgen (Teil 2)
Was bisher geschah: Der Erzähler und sein Trinkkumpan Binz landen nachts in der Wohnung des Wittgenstein-Experten Graubner. Dort sind sämtliche Dinge verschwunden. Es befindet sich in der Wohnung nichts mehr außer einem geheimnisvollen grünen Klotz, der enorm schwer ist.
Auch auf dem Polizeirevier Hannover-Süd, wo Graubner zwecks Erläuterung seiner Sorgen beziehungsweise wegen einer Diebstahlsanzeige gegen unbekannt vorgesprochen hatte, sei ihm jede Hilfe verweigert worden. Stattdessen habe der Diensthabende von Graubner eine Blutprobe verlangt und gedroht, im Wiederholungsfall eine Klage wegen Verächtlichmachung von Amtspersonen anhängig zu machen.
„Scheißbullen“, zischte Binz und spuckte ein Korkenstück in Richtung des grünen Quaders. Ich glaubte, von dort ein leises Ächzen zu vernehmen. Graubner hörte es auch und wurde blass. Zur Beruhigung meiner Nerven zog ich eine Packung Camel ohne aus der rechten Jackentasche und griff in die linke, um das Feuerzeug herauszuangeln. Es war nicht da. Ich fuhrwerkte in den Hosentaschen, beklopfte nochmals die Jacke, zum zweiten Mal die Hose. Kein Feuerzeug. Dabei war ich sicher, in der Kneipe nicht nur mein Big-Feuerzeug, sondern auch das von Binz eingesackt zu haben. „Die Dinge verschwinden“, raunte Graubner. „Sie rotten sich zusammen, irgendetwas Schreckliches geht vor.“ Unser Gastgeber versank in dumpfes Brüten.
Plötzlich sägte ein harter schriller Laut durch die Mansarde. Er kam unzweifelhaft von dem grünen Quader, der in der Mitte des Zimmers stand. Nein, dort gestanden hatte, denn das Ding schien sich tatsächlich zu bewegen. Es rutschte langsam, aber stetig unter klebrig grünem Schwitzen, Schäumen und Speien über das Parkett und lärmte dabei in solcher Entsetzlichkeit, dass es mir alle Knochen im Leibe zusammenzog.
Auch Binz und Graubner saßen wie paralysiert. Ich schaffte es, dem scheußlichen Ding den Rücken zuzuwenden und stürzte das Treppenhaus hinunter in die eiskalte Winternacht. Aber jener grässliche Laut heftete sich an meine Fersen. Er schien jetzt aus jedem Winkel des Hauses zu dringen, aus den Korridoren und Zimmern, aus dem Keller und vom Dach. Er schien aufzusteigen von den Parkplätzen und Nachbarhäusern, aus den Geschäften und Schänken, aus weit entfernten Vierteln, aus den Kanalschächten und Kloaken und den Industriebrachen der Vorstadt. Das Inferno erhob sich zu so tosendem Heulen und Brüllen, als wäre es das Flehen um Errettung aus tiefster Qual, das Jammern gepeinigter Seelen in höchster Not, das dumpfe und rachsüchtige Flehen jahrtausendelang eingekerkerter Verzweiflung.
Der ganze unirdische Tumult lag wie eine große Glocke über der Stadt. Und unter dieser furchtbar tönenden Glocke irrten nackte Menschenhaufen besinnungslos von hier nach dort und schickten Flüche und Fürbitten gen Himmel, als sei das jüngste Gericht angebrochen. Denn nun begannen die Dinge tatsächlich zu verschwinden. Schuhe, Anzüge, Unterwäsche, Hosenträger, Brillen, Laternen, Automobile, Telefone, Briefkästen, Hochspannungsmasten, Parkuhren, Gullydeckel, Wurstbuden, Schankstuben, ja ganze Gebäudekomplexe verloren Form und Fassung, lösten sich auf und waren augenblicklich wie vom Erdboden verschluckt.
Mein Gedanken rasten. Konnte das wahr sein? Hatte Graubners Recht? War das der Aufstand der geknechteten Dinge gegen die Menschheit, Platos Menetekel: „die Gigantenschlacht um das Sein“? Dann musste man es aufhalten, mit was auch immer.
Ich rannte zurück in das Haus, zurück in Graubners Mansarde und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Binzens rechter Schuh unter dem Schleimquader verschwand.
„Was bist du?“, schrie ich den giftig simmernden Kloben an. „Ein Ding, ein Quader, ein Schrank? Dann bist du Nichts. Nicht die Dinge bilden die Substanz der Welt, sondern die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen!“ Ich geiferte und belferte, ich betete den ganzen „Tractatus logico-philosophicus“ herunter, erst vorwärts, dann rückwärts und wieder vorn vorn, inständig hoffend, der Kubus möge nicht wissen, dass Wittgenstein seine berühmte Schrift am Ende für kalten Kaffee gehalten hatte.
Der Quader schwieg minutenlang. Dann wechselte er die Farbe. Er wurde blau, dann gelb, chargierte von orange ins Graue und verpuffte schließlich mit einem sanften Plop …
Der Spuk war zu Ende. Wittgenstein hatte die Welt gerettet. Wie das funktioniert hatte, wusste ich nicht, ließ es mir aber am nächsten Abend von Graubner auseinander setzen. „Alle Erklärung muss fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“, zitierte er seinen Meister. Logisch, Leben heißt Abschied nehmen. Darauf noch ein Pils.
MICHAEL QUASTHOFF