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Archiv-Artikel

Buchtipp

Reisen im Kaffeehaus

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf“, schreibt Ilse Aichinger schon in einem ihrer ersten kurzen, teilweise sehr kurzen Reisefeuilletons, die zwischen 2001 und 2004 immer freitags im Wiener Standard erschienen sind. Einige dieser Texte wurden nun in dem Band „Unglaubwürdige Reisen“ zusammengefasst. „Unglaubwürdige Reisen“ – der Titel stellt das Tun der Schriftstellerin in Frage, doch so sehr muss man sich darüber nicht wundern: Reiseliteratur war seit ehedem „unglaubwürdig“. Vom Abenteuer- und Schelmenroman über Karl May bis hin zu der autobiografisch gefärbten Reiseliteratur von Joseph Conrad oder Hubert Fichte – überall unglaubwürdige, unglaubliche Reisen.

Was Ilse Aichinger von vielen Autoren unterscheidet: Für ihre kurzen Texte bewegt sie sich kaum vom Fleck. Sie tut einfach das, was sie immer tut: sitzt in einem Wiener Kaffeehaus, vorzugsweise dem „Demel“ und beginnt schreibend zu reisen. Dabei verbindet sich Gefundenes, Erfundenes und Erinnertes zu einem literarischen Knoten, den zu lösen der Leser nicht vermag.

Wir begleiten Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester in die Kapuzinergruft, reisen mit ihrem Urgroßvater durch den Kaukasus, mit Sigmund Freud in sein Londoner Exil – und mit der polnischen Putzfrau nach Auschwitz. Vor allem jüdische Geschichte steckt in diesem Buch. Jüdische Geschichte, erlebt mit der jüdischen Mutter, einer Ärztin, die Flucht der Zwillingsschwester ins Londoner Exil, die Deportation der Großmutter und anderer mütterlicher Verwandtschaft, von Schulfreundinnen und Nachbarn in die Vernichtungslager. Der Tod ist einer der treuesten Reisebegleiter dieser inneren Reisen in die Vergangenheit – ein Tod, vor dem Aichinger keine Angst hat, wie sie in einem Interview am Ende des Buchs erzählt und den Satz formuliert: „Gute Literatur ist mit dem Tod identisch.“

Dieses Buch – maßgeblich angeregt durch den im Jahr 2004 verstorbenen Literaturkritiker des Standard, Richard Reichensperger – ist auch ein Lob der kurzen (nicht schnellen), im besten Sinne journalistischen, tagebuchähnlichen Form. Wenn einer eine Reise tut, da kann er was erzählen. Doch selten von Fremdem. Meistens, wie auch Ilse Aichinger, vom eigenen Ich. Einem Ort, der so fern und nah, so tatsächlich und unglaubwürdig ist wie kein anderer. MARC PESCHKE

Ilse Aichinger: „Unglaubwürdige Reisen“. Herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Fischer S. Verlag 2005, geb., 186 Seiten, 25 Abb., 17,90 €