: Die Karlsruhe-Performance
RECHT Das Bundesverfassungsgericht definiert das Grundgesetz immer wieder neu. Das verunsichert die Politik – und freut die Bürger
■ ist promovierter Verfassungsjurist und rechtspolitischer Korrespondent der taz. In diesen Tagen erscheint sein Buch „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ bei Wagenbach.
Ganz Deutschland rätselt: Wird das Bundesverfassungsgericht die NPD verbieten, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird? Exverfassungsrichter Winfried Hassemer sagte dazu jüngst in einem Interview: „Das hängt von den Maßstäben ab, die das Bundesverfassungsgericht erst noch entwickeln muss.“ Das ist unbefriedigend und doch präzise. Derzeit weiß niemand, welche Voraussetzungen Karlsruhe für ein Parteiverbot verlangt. Eine konkrete Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland? Eine abstrakte Gefahr für Minderheiten in bestimmten Regionen? Alles ist vertretbar, alles ist plausibel.
Hassemer fasst die Ungewissheit in ein schönes Bild: „Wenn die Beratungen beginnen, stößt das Verfassungsgericht gewissermaßen vom Land ab, wie ein Schiff, es begibt sich auf eine Reise. Und der Witz dieser Beratungen ist, dass man vorher nie genau weiß, wo man ankommen wird.“
Es steht nicht im Grundgesetz
Für die Ehrlichkeit ist ihm zu danken. Amtierende Verfassungsrichter legen selten offen, dass die Maßstäbe, nach denen sie urteilen, meist erst in Karlsruhe gedrechselt werden. Ein Blick ins Grundgesetz genügt in der Regel eben nicht, um zu wissen, wie das Gericht entscheiden wird – nicht nur bei Parteiverboten. Das liegt schon am Wesen von Verfassungsbestimmungen, die meist wohlklingend, aber eher unbestimmt sind. Die Richter müssen sie konkretisieren, um sie anwendbar zu machen. Für neue Herausforderungen erfinden sie neue Regeln wie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung oder den Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze im Ausland.
Zwar kann der Gesetzgeber in jedes Grundrecht eingreifen durch ein Gesetz, das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt. Was aber verhältnismäßig ist, bestimmen am Ende die Verfassungsrichter. Gern betonen diese, dass sie durch die bisher 130 Bände eigener Urteile weitgehend gebunden seien. Doch bei Bedarf können sie jederzeit ihre Rechtsprechung ändern, und sie tun dies auch – jüngst etwa die zur Homo-Ehe, zur Bundeswehr im Innern oder zu Überhangmandaten bei der Bundestagswahl.
Der Gesetzgeber hat also keine Chance, es dem Bundesverfassungsgericht immer recht zu machen. Denn er kann vorab oft einfach nicht wissen, wie die Richter entscheiden werden. In der Öffentlichkeit kommen die regelmäßigen Rüffel aus Karlsruhe allerdings ganz anders an. Dort geht man davon aus, dass es klare Vorgaben des Grundgesetzes gibt und das Verfassungsgericht dafür sorgt, dass diese eingehalten werden. Wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde, kann dies demnach nur drei Ursachen haben. Entweder die Politiker haben fahrlässig nicht das Grundgesetz gelesen, oder sie waren zu dumm, das Grundgesetz richtig zu verstehen, oder – am schlimmsten – sie haben das Grundgesetz bewusst missachtet.
Deutsche Liebe zum Gericht
Dass ein Gericht der Politik die Grenzen aufzeigt und sagt, wo es langgeht, ist in Deutschland ein attraktives Konzept. Zwar gibt es in vielen Ländern Verfassungsgerichte, aber wohl in kaum einem Staat wird der kontrollierende Eingriff der Verfassungsrichter in den politischen Prozess so goutiert und gefordert wie in Deutschland. Vermutlich ist dies ein Indiz dafür, dass die Deutschen mit Demokratie, Pluralismus und politischem Streit immer noch etwas fremdeln und sich lieber an das scheinbar eherne (Verfassungs-)Recht halten.
Dabei macht das Bundesverfassungsgericht von seiner Macht durchaus zurückhaltend Gebrauch. Auch in Bereichen, in denen Karlsruhe regelmäßig interveniert, wie bei der inneren Sicherheit oder der europäischen Integration, bekommt die Politik im Kern und am Ende meist, was sie will. Und das noch verbunden mit dem Gütesiegel „geprüft in Karlsruhe“. Das Verfassungsgericht bemüht sich auch sehr um eine lebendige Demokratie. Es stärkt die Rechte des Bundestags gegenüber der Regierung, es verteidigt die Rechte der Opposition gegenüber der Mehrheit, vor allem aber schützt es die Rechte außerparlamentarischer Akteure vor zu viel Gängelung. Seine Interventionen sind oft symbolisch und zielen auf Ausgleich. Durch teils nur kleine Korrekturen an Gesetzen werden Kritiker eingebunden. Und selbst wenn ein angegriffenes Gesetz bestätigt wird, gibt Karlsruhe den politisch Unterlegenen das Gefühl, dass auch ihre Anliegen im Staat ernst genommen werden.
Das Bundesverfassungsgericht trägt also viel zur Legitimation des demokratischen Systems in Deutschland bei – allerdings oft auf Kosten der politischen Akteure, die es, so die Inszenierung, an ihre grundgesetzlichen Pflichten erinnern muss. Deutschland wurde so zum Schiedsrichterstaat, in dem die Schiedsrichter deutlich beliebter sind als die politischen Player.
Das NPD-Verbot
Faktisch ist aber auch das Bundesverfassungsgericht ein politischer Akteur, ausgestattet mit Veto- und übergeordneten Gestaltungsrechten, mit der Fähigkeit, den politischen Diskurs zu prägen, Themen zu setzen, Werte zu definieren und Interessen zu versöhnen. Der Bezug auf das Grundgesetz ist vor allem eine Performance, bei der alle mitspielen. Alle lesen ins Grundgesetz hinein, was sie politisch für sinnvoll halten, und am Ende entscheidet das Karlsruher Gericht, wie das Grundgesetz „richtig“ ausgelegt wird. Die Verfassungsrichter sind insofern eine Art Rechtsdarsteller.
Auch die anstehende Entscheidung über ein Parteiverbot geht weit über die konkrete Frage hinaus, ob die NPD verboten wird oder nicht. Die Definition des Maßstabs wirft grundsätzliche Fragen auf. Gibt es Toleranz gegenüber den Intoleranten? Haben Minderheiten einen Anspruch auf Ausschaltung der politischen Klimavergifter?
In Deutschland werden solche politischen Grundentscheidungen nicht zwingend im Parlament getroffen. Vielmehr ist auch das Bundesverfassungsgericht ein akzeptiertes politisches Entscheidungsgremium (solange das Gericht behauptet, dabei „Recht“ zu sprechen). Die politische Debatte sollte sich daher schnell von der fruchtlosen Prognose-Frage lösen, wie die Richter am Ende entscheiden werden. Wichtiger ist die Frage, wie die Richter entscheiden sollen! Darüber müssen wir jetzt diskutieren.