Kolumne Das Schlagloch: Nachösterliches Bekenntnis

Keine Religion hat das Recht, sich über alle anderen Religionen zu erheben.

Pilger, auf der Suche nach Sicht, / du hältst an jedem Schrein. / Atme durch, lies deinen Geist, / ehe du das Land verbrennst / mit der Spur deiner Füße. / Auf Pilgerschaft verliebst du dich / in das Grün des fernsten Grases. (Lal Ded, Kashmir im 14. Jahrhundert)

Es war weder still noch lärmte es. Die Geräusche, die ich hörte, verstand ich nicht. Sie waren mir in ihrer Gesamtheit fremd, auch wenn ich hier und da ein Knirschen, ein Dröhnen oder ein Platzen wiedererkannte. Wenn ich mich nach dem Ursprung der Geräusche umschaute, entdeckte ich nichts Vertrautes. Ich konnte die Zeichen dieses Landes nicht lesen.

Spät am Abend ergraute das Eis zu beiden Seiten und ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich woanders, und die Kälte, die ich zuvor gespürt hatte, wärmte mich von innen. Ich blickte um mich herum - ich war allein auf dem Außendeck. Und das Schiff, das langsam seinen Kiel ins verkrustete Wasser grub, bewegte sich andächtig durch einen überlebensgroßen Schrein. Es war einer dieser Augenblicke, in denen einem das Wort "Schöpfung" einfällt, so als sei es das einzige Wort im Lexikon. Ich befand mich in der Antarktis - vor der Küste der Antarktischen Halbinsel, genauer gesagt - auf unbeabsichtigter Pilgerschaft, und ich war gerade dabei, mich in das Schimmern des ewigen Eises zu verlieben.

Seit Tagen schon leuchtete es mir entgegen, ein Symbol des Lebendigen und des Heiligen. Das Eis ist Flüssigkeit, Gas und Masse; es kommt in allen Größen und Formen, als flacher Block, der Liechtenstein so gut bedecken könnte, dass nur noch ein letzter Geldschein hervorlugen würde, oder als umgedrehte Tüte, spitz und steil; es ist vielleicht die vielfältigste Erscheinung auf Erden, zudem langlebig und schmerzhaft schön anzusehen. Wenn es schmilzt, entweicht Sauerstoff, der hunderttausend Jahre alt ist, eine Frischatemkur sondergleichen. Doch sollte es in nicht so ferner Zukunft nicht mehr "ewig" sein, würde nicht nur die Menschheit sterben, sondern auch der Gott der Menschen.

Inzwischen war es so dunkel geworden, wie es im Sommer im tiefen Süden dunkelt. Angesichts der sich ständig wandelnden Umrisse der Eisberge verabschiedete sich der Tag voller Unsicherheit. Und mir wurde bewusst, dass die Frage "Woran glauben Sie?" sich auch übersetzen lässt mit "Wonach suchen Sie?". Eine Sorge trieb mich um in der Antarktis - keine Worte zu finden für das Unersichtliche, das sich mir dort offenbarte, jene Sprache nicht aufzuspüren, die alles erhöht und nichts erniedrigt. Immer wieder suchte ich nach angemessenen Formulierungen, suchte zunehmend verzweifelter nach Lettern, die in meinem Setzkasten nicht vorhanden waren. Ich verstand, wieso das Heilige - ergo: das Unbeschmutzte - in vielen Traditionen nicht beschrieben werden sollte. Das Heilige bewahrt uns davor, unser Ich als heilig zu erachten und die Menschheit über die Schöpfung zu stellen.

Vertieft in die unzähligen Schattierungen von Grau und Weiß, leuchtete es mir in besonderem Maße ein, dass Gott - die unendliche Vielfalt - keinen Namen tragen darf, weil ein jeder Name von Einschränkung spricht. Und doch wird dem Unbenennbaren, sowohl auf einem Schiff am siebzigsten südlichen Breitengrad wie auch in den Tempeln der Welt, ein Name gegeben, und dieser eine Name wird absolut gesetzt.

Womit wir bei den Osterpredigten wären, die mich bald nach meiner Rückkehr in die Glutöfen der Zivilisation erwarteten. Es hatte eine giftige Kontroverse über Bekehrungsbegehren gegeben, die jene Behauptung einer judäo-christlichen Zivilisation, die seit dem Zweiten Weltkrieg ohne Sinn und Beweis wiederholt wird, mal wieder in Frage stellte. Im Radio vertrat ein Kommentator die These, jede Religion habe das Recht, sich über alle anderen Religionen zu erheben, müsse aber auf gewisse Grenzen des Anstandes achten (mit anderen Worten: sie darf Gewalttätiges behaupten, aber nicht ausführen). Wieso?, fragte ich mich.

Jeder Mensch schafft sich einen eigenen Glauben, in Nuancen, und bei manch einem kaum nachspürbar - und doch eigenständig. Ist es überhaupt möglich, dass zwei dasselbe meinen, wenn sie das Wort "Gott" in den Mund nehmen? Ich fühlte mich in meinem alten Misstrauen gegenüber der Predigt bestätigt. Sie ist oft ein Instrument, das Andere verächtlich zu machen.

Wie selten propagiert die Predigt: "Ihr könnt alle Religionen ausprobieren und jeden Weg einmal abgehen." So wie es ein indischer Meister aus dem 19. Jahrhundert nicht nur sagte, sondern auch vorlebte. Wie selten verkündet sie: "Man wird verwandelt, wenn man zwischen den Traditionen steht." Wenn wir das Göttliche ernst nähmen, müssten wir nicht danach streben, das Gemeinsame in jedem Fragment zu sehen?

Vielleicht sollte jeder Mensch seine eigene Osterpredigt halten. Seine Gedanken schütteln, in die Sonne strecken, treiben lassen. Seine Ohren den lauten, ja hysterischen Schreien der Besserwisser des Glaubens verschließen. Wenn jeder eine Predigt hielte, in Gedanken für sich oder seinen Nächsten beim Frühstücksei, beim Spaziergang, dann wäre zwar das Gift der gegenseitigen Vereinnahmungen und Vorwürfe nicht aus der Welt geschaffen, aber in einem so hohen Maße individualisiert, dass die Gefahr der ideologischen Blockbildung entfiele.

Meine persönliche kleine Predigt in diesem Jahr würde sich aus aktuellem Anlass gegen die Idee der Blasphemie richten. Genauer noch: Sie würde behaupten, dass jeder, der andere der Blasphemie zeiht, selbst Blasphemie begeht, weil er Gott auf ein menschliches Maß reduziert. Ich würde argumentieren, dass Gott klein zu machen eine größere Blasphemie ist, als seine Existenz zu leugnen. Und daran erinnern, dass die Sprache des Menschen den Umfang des Göttlichen nicht ermessen kann, insofern alles, was über Gott gesprochen wird, eigentlich nicht von Gott handelt, und somit das Heilige nicht schmähen kann.

Und weil jede gute Predigt mit einigen passenden Zitaten auftrumpfen muss, würde ich Robert Musil zur Unterstützung herbeirufen: "Gott mit einer menschlichen Moral zu identifizieren ist Blasphemie!" Das Göttliche - meine persönliche Predigt wiche abschließend etwas ab vom Thema - ist jenseits aller Rechnungen, jenseits aller Aufrechnung und Abrechnung. Jenseits aller Gesetze. Die Hallen der Gebote sind entgöttert und stumm. Und, weil jede Predigt mit einem Aufruf enden muss, einem Entlassen der Gedanken in die Tat: Egal, wohin die Reise jedes Einzelnen von uns geht, der Weg sollte beschritten werden mit Erkenntnis und Mitgefühl.

Farbe entsteht aus Farbe, / Hinter jeder Farbe Licht. / Welche Farbe hat das Leben? / Wenn du es weißt, dann sprich! (Kabir, Varanasi im 15. Jahrhundert)

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