Debatte Minderheiten: Ich Opfer!

Warum präsentieren sich diskriminierte Minderheiten so gerne als ohnmächtige Opfer? Die Konkurrenz um den Opferstatus kann ihre wechselseitige Solidarität untergraben.

Schön schrill und mit den erwartbaren Reflexen verlief die Debatte um Faruk Sens Satz, die Türken seien "die neuen Juden Europas": Die notorischen Westliche-Werte-Verteidiger, für die diese Werteverteidigung vor allem im Schlechtmachen einer Minderheit besteht, wünschen Herrn Sen seitdem zum Teufel, also in die Rente. Wer dagegen der "Islam-ist-Faschismus"-Sekte nicht angehört, wirft sich notgedrungen an die Seite von Faruk Sen in den Kampf.

Wenden wir uns also dem zu, was Faruk Sen gesagt hat: die Türken seien die "neuen Juden" Europas. Das ist reichlich blöd, insbesondere vor dem Hintergrund des Holocaust, mit dem sich die Diskriminierungen, denen Türken hierzulande ausgesetzt sind, nicht einmal vergleichen lassen, wenn man delirös übertreibt. Freilich hat Herr Sen diesen Satz gesagt, um Diskriminierungen entgegenzutreten, denen Juden in der Türkei ausgesetzt sind. Und damit hat er gesagt: Das, was in der Türkei den Juden widerfährt, ist das, was in Europa den Türken widerfährt. Damit verfolgte Sen nicht nur moralisch ein durchaus lauteres Ziel - mehr noch, seine Formulierung ist nicht einmal so ganz falsch.

Natürlich kann man, wie schon Sergey Lagodinsky (in der taz vom 8. 7.) an diese Stelle ausführte, die Diskriminierung der Türken heute mit der historischen Diskriminierung der Juden in Europa oder etwa auch in muslimischen Ländern vergleichen. Aber dennoch hat so ein Satz einen Subtext - allein schon, wenn er von einem Deutschen türkischer Herkunft gesprochen wird. Denn ein Deutscher kann gar nicht anders, als diesen Satz im Bewusstseins der Chiffre "Juden = ultimatives Opfer" zu sprechen. So hat ein solcher Satz immer auch eine zweite Bedeutung: Man will sich als Minderheit in eine Opferposition bringen.

Diese Praxis ist uns heute so geläufig, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie bemerkenswert sie ist. Denn es ist doch keineswegs ausgemacht, dass eine Minderheit, die um ihre Anerkennung kämpft, sich als ohnmächtig darstellt. Es wäre schließlich durchaus auch denkbar, dass sie sich als stark darstellt und dass sie alle rhetorischen Tricks darauf verwendet, als ebenbürtig zu erscheinen statt als schwach.

Tatsächlich ist es wirklich so, dass bis vor ungefähr dreißig Jahren Ethnien und Minoritäten, die für ihre Rechte eintreten, nicht sonderlich viel Energie darauf verwandt haben, sich als ultimative Opfer zu präsentieren. Erst in den Sechzigerjahren setzte diese Entwicklung ein. Nahezu jede diskriminierte Ethnie wollte plötzlich die eigene Diskriminierung mit "Völkermord" und "Genozid" in Zusammenhang bringen. Sehr schnell wurden diese Verbrechen historisch aufeinander bezogen: Das Geschick des vietnamesischen Volkes wurde mit dem Genozid an den Juden identifiziert, jede koloniale Unterdrückung auf die gleiche Stufe wie der Genozid am vietnamesischen Volk gestellt - und so weiter und so fort.

Eine oberflächliche Betrachtung könnte nun nahelegen, dass unterdrückte und diskriminierte Völker und Minderheiten sich einfach ein Beispiel an den Juden genommen haben, die nach dem Holocaust das schlechte Gewissen der Täter - vor allem aber jener Länder, die den Judenmord nicht entschieden genug verhindert haben - mobilisiert haben. Es ist dies aber selbst eine sehr fragwürdige These, da auch im jüdischen Diskurs in der Diaspora und im neugeschaffenen Staat Israel diese Identitätsproduktion über die Opferrolle in den Fünfzigerjahren weitgehend unbekannt war. Zwar spielte der Holocaust als Hintergrund bei der Gründung Israels eine Rolle - vor allem im praktischer Hinsicht, weil man einen Ort für die Überlebenden brauchte, die als "Displaced Persons" in Europa keine Zukunft hatten. Aber weder unter Juden in Europa noch in Israel wurde viel darüber geredet, im Gegenteil: Individuell saß bei den überlebenden Juden das Trauma viel zu tief, und kollektiv wollte sich Israel eher als stark und zukunftsfroh verstehen, nicht als Land der Opfer.

Auch in Israel setzte der Diskurs, der die Selbstlegitimation und die Raison dÊtre des Landes mit dem Genozid an den Juden Europas verband, erst in den Sechzigerjahren ein - zur selben Zeit also, als die Anschuldigung, eine Mehrheitsgesellschaft oder ein mächtiges Imperium würde einen "Völkermord" an einem wehrlosen Volk begehen, zum Standard der politischen Propaganda wurde, und zwar ganz unabhängig davon, ob der Vorwurf stimmte oder nicht. Es scheint also weniger so zu sein, dass das ultimative Verbrechen des Judenmordes einfach alle anderen diskriminierten Ethnien dazu einlud, sich als die "neuen Juden" darzustellen. Vielmehr hat die Moralisierung der politischen Diskurse und die wachsende Bedeutung der Menschenrechte in der internationalen Politik seit den Sechzigerjahren dazu geführt, dass Bevölkerungsgruppen, die um ihre Anerkennung kämpfen, viel gewinnen können, wenn sie sich als Opfer darstellen.

Seitdem rüttelt man die internationale Öffentlichkeit am besten wach, indem man sich als wehrloses Opfer präsentiert. Allerdings: Angesichts der knappen Ressource Aufmerksamkeit führt das gelegentlich zu einem Wettlauf, wer am meisten Opfer ist.

Dies untergräbt auch die wechselseitige Solidarität von Diskriminierten. Es kann sogar zum Neid auf die anderen führen, denen man vorwirft, sie würden ihr Opferprivileg ausschlachten, obwohl man selbst doch viel mehr diskriminiert ist. Man soll das nicht verschweigen: Auch solches ist zu hören - oder besser: subtil zu spüren - im türkischen Diskurs über die Juden. Unter radikalen Schwarzen in den USA klang das nicht viel anders übrigens, als die Bürgerrechtskoalition zwischen jüdischen und schwarzen Amerikanern in den Siebzigerjahren porös wurde.

All dies lässt sich aber nur vor dem Hintergrund eines Wettlaufs um die Rolle des eigentlichen Opfers erklären. Die Opferrolle kann strategische Vorteile bringen. Sie kann freilich auch einen langfristigen negativen Folgeeffekt zeitigen, den man Selbstviktimisierung nennt. Es ist für den Einzelnen nämlich nicht gesund, sich stets nur als Opfer zu fühlen. Für die Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe ist es noch viel ungesünder, wenn sie sich über lange Zeit gegenseitig darin bestärken, dass sie Opfer sind, den schrecklichsten Diskriminierungen ausgesetzt, so dass sie tatsächlich ja keine Möglichkeiten hätten, an ihrem Geschick etwas zu ändern.

Leicht richtet man sich dann ein in der Lage, die man beklagt. Man will in seiner Rolle als Opfer entschädigt werden - aber man will diese Rolle nicht mehr verlassen. Oft führt das sogar zu ehrlichen, nichtsdestoweniger aber neurotischen Identifikationen mit anderen Opfern.

Selbstviktimisierung schadet den Diskriminierten. Es steht freilich der Mehrheitsgesellschaft schlecht an, darüber die Nase zu rümpfen. Mag die Opferrolle auch eine Falle sein, in der sich die Diskriminierten leicht verfangen - ihre Diskriminierung ist meist dennoch real.

ROBERT MISIK

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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