Minus mal minus macht plus

Wenn viel Kritik sehr fröhlich macht: Die Proteste von allen Seiten schweißen die Protagonisten der großen Koalition erst recht zusammen

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

So viel Gemeinsamkeit war nie wie. Guido Westerwelle und Lothar Bisky sind sich auf einmal völlig einig. Die grünen Parteifeinde Claudia Roth und Oswald Metzger auch. Ja, sogar der Arbeitgeber Dieter Hundt und der Gewerkschafter Frank Bsirske stimmen überein. Sie alle finden den Koalitionsvertrag, den Union und SPD ausgehandelt haben, schlecht. Sehr schlecht. So schlecht, dass sie überall ganz laut schimpfen. Selten ist eine neue Regierung mit so viel Kritik von allen Seiten empfangen worden.

Dafür wirken die Protagonisten der neuen Regierung erstaunlich locker. Selten ist in der Bundespressekonferenz so viel gelacht worden wie an diesem Samstag, als die vier wichtigsten Koalitionäre ihr Einigungswerk vorstellten. Da grinste nicht nur die designierte Kanzlerin Angela Merkel vergnügt, als ihr künftiger Vize Franz Müntefering sagte: „Das ist eine Lebensabschnittspartnerschaft, die wir jetzt machen.“

Oder doch ein bisschen mehr? So innig wirkten vor allem Merkel und Müntefering, dass auch der künftige SPD-Chef Matthias Platzeck klarstellen musste, es gehe „nicht um eine Liebesheirat“. Selbst der Streit um die Richtlinienkompetenz im Kabinett: schnell beigelegt. Er schien nur noch eine Randnotiz aus längst vergangenen Zeiten, als man sich nicht mochte. „Es wird noch der Moment kommen“, witzelte Merkel nun, „an dem mich ein sozialdemokratischer Minister um die Ausübung meiner Richtlinienkompetenz bittet.“ Auch CSU-Chef Edmund Stoiber, anfangs noch griesgrämig, taute angesichts des allgemeinen Gescherzes und Gejohles langsam auf und schmunzelte bei Platzecks launigen Bemerkungen über Sex und Politik. „Ich weiß“, tat Matthias Platzeck kund, „dass Haushaltssanierung kein hohes erotisches Potenzial hat.“ Aber es müsse halt sein, so Platzeck. Alle seien sich einig, dass man sparen wolle, da komme man um Steuererhöhungen und andere unangenehme Maßnahmen nicht mehr herum. Was die Koalitionäre zu verkünden hatten, passte zum gestrigen Volkstrauertag. Wie sie es sagten, erinnerte an den Karnevalsbeginn am Freitag.

Das Führungsquartett der großen Koalition hatte sich ganz offenkundig vorgenommen, fröhliche Einigkeit zu demonstrieren. Und das, obwohl es genau weiß, was nun auf es zukommt: eine Protestwelle. So viele Kürzungen und Zumutungen hat noch keine Regierung angekündigt. Längst schüren Bild und andere Blätter entsprechende Empörung. Im Merkel-Umfeld redet man von einer „Kampagne der Springer-Presse“, die „nicht von Pappe“ sei. Doch wirklich besorgt sind die Parteiführungen weder bei Union noch SPD: Bis zu einem gewissen Grad kommt der Protest sogar gelegen. Der Chor der Koalitionskritiker ist so laut und vielschichtig, dass sich die einzelnen Kritiker gegenseitig übertönen – und in ihrer Wirkung neutralisieren. Minus mal minus macht eben plus. Jedenfalls hoffen die Parteistrategen auf eine solche Wirkung auf ihre eigenen Leute – und darauf kommt es heute an, wenn die Parteitage von Union und SPD den Koalitionsvertrag absegnen müssen. Kommt der Gegenwind von allen Seiten, tun sich die parteiinternen Nörgler schwer. „Ist die große Koalition nun ein schwarzer Marienkäfer mit roten Punkten oder ein roter Käfer mit schwarzen Punkten?“, fragt der stellvertretende CDU-Chef Christoph Böhr, der sich vor seiner Landtagswahl im März eigentlich gern als CDU-Querkopf profilieren möchte – und gibt doch eine Antwort, die seiner Chefin Merkel durchaus recht ist: „Ich weiß es nicht.“ Denn damit sagt Böhr: Wer bei den Koalitionsverhandlungen gewonnen und wer verloren hat, ist schwer auszumachen. Genau deshalb fiel es den vier Koalitionären auch so leicht, harmonisch aufzutreten. Genau deshalb nehmen sie die Entrüstung so gelassen.

Niemand könnte die SPD-Führung auf ihrem Parteitag in Karlsruhe nachdrücklicher unterstützen als Arbeitgeber, die ihre Unzufriedenheit bekunden und die „Reichensteuer“ verdammen. Nichts hilft Merkel auf ihrem kleinen Parteitag in Berlin mehr als Linkspartei, Grüne und Gewerkschafter, die gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes protestieren. Dagegen dürfte auch ein Friedrich Merz nicht ankommen, der in der künftigen Regierungspolitik „so viel SPD wie noch nie“ entdeckt und beklagt, für das Kanzleramt habe die Union einen „verdammt hohen Preis“ bezahlt.

Für einen Aufstand fehlt fast alles, vor allem eine klare Haltung möglicher Rivalen: Christian Wulff und andere, die jetzt die mangelnde Handschrift der Union im Koalitionsvertrag beklagen, hatten im Wahlkampf noch Merkels fehlende soziale Wärme moniert. Auch wegen dieser eigenen Unentschlossenheit müssen sie Merkel nun erst mal folgen.

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