: Die Lehrstellenbilanz wird gezielt geschönt
ÜBERGANGSSYSTEM Der Nationale Ausbildungspakt versteckt über 250.000 arbeitslose Jugendliche in Warteschleifen
VON MATTHIAS ANBUHL
Die Partner des Ausbildungspaktes – die Spitzenverbände der Wirtschaft und die Bundesregierung – sprechen in ihrer Bilanz des Ausbildungsjahres 2012 von einer „insgesamt guten Situation“ für die Jugendlichen. Es gebe auch in diesem Jahr „mehr unbesetzte Stellen als unvermittelte Bewerber“.
Trotz des vermeintlich entspannten Ausbildungsmarkts liegt der Anteil der Menschen ohne Berufsabschluss weiterhin konstant hoch. Das Statistische Bundesamt zählt 1,56 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Berufsabschluss. Der Anteil der ausbildungslosen Jugendlichen liegt bereits seit mehr als zehn Jahren bei rund 15 Prozent – und damit auf hohem Niveau.
Die hohe Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss passt nicht zu den Erfolgsmeldungen des Ausbildungspaktes. Wenn es tatsächlich einen Bewerbermangel in der Berufsbildung geben würde, müsste auch die Zahl der Ausbildungslosen sinken. Mehr noch: Ein tieferer Blick in die aktuelle offizielle Ausbildungsstatistik zeigt höchst problematische Entwicklungen. Im Jahr 2012 wurden lediglich 551.271 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Dieses bedeutet ein Minus von 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Einen ähnlich niedrigen Wert gab es seit der Wiedervereinigung nur im Jahr 2005.
Der Ausbildungspakt zieht eine einfache Bilanz: „Zum 30. September 2012 sind erneut mehr unbesetzte Ausbildungsplätze (33.300) als unversorgte Bewerber vorhanden (15.700).“ Diese Bilanz suggeriert: Der Ausbildungsmarkt hat sich gedreht. Erneut gibt es mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber.
Nicht jeder junge Mensch, der sich bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) meldet und einen Ausbildungsplatz sucht, wird freilich in der offiziellen Statistik als Bewerber geführt. Die Jugendlichen durchlaufen zunächst ein Profiling bei der BA. Erst danach wird entschieden, ob der Jugendliche als „ausbildungsreif“ oder „nicht ausbildungsreif“ eingestuft wird. Jugendliche, die nicht als „ausbildungsreif“ deklariert werden, werden von der offiziellen Statistik gar nicht erst als Bewerber erfasst. Damit entsteht eine „Grauzone“ unversorgter Jugendlicher, die aus jeder Ausbildungsmarktbilanz herausfallen. Gleichzeitig reduziert sich rein statisch die Zahl der unversorgten Bewerber, die Ausbildungsbilanz fällt freundlicher aus.
Allein im Jahr 2012 wurden exakt 273.355 junge Menschen als versorgt deklariert, die von der BA als „ausbildungsreif“ eingestuft wurden, aber nicht in Ausbildung vermittelt wurden. Von dieser Gruppe wurden 167.772 junge Menschen in Alternativen geparkt – wie zum Beispiel Praktika, einer Einstiegsqualifizierungen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen. Von 89.933 jungen Menschen weiß die Bundesagentur für Arbeit nicht, wo sie verblieben sind, sie hat diese Menschen aber nicht in Ausbildung vermittelt.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat die 167.772 als „ausbildungsreif“ eingestuften Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, sondern in einer Ersatzmaßnahme des Übergangssystems untergebracht wurden, näher betrachtet. Von dieser Gruppe haben immerhin 60.379 junge Menschen aktiv gegenüber der BA angezeigt, dass sie schon für das laufende Jahr weiterhin einen Ausbildungsplatz suchen. Auch diese Gruppe ist nach Auffassung des BIBB und der Autoren des Nationalen Bildungsberichts den unversorgten Jugendlichen zuzurechnen. Addiert man die laut Ausbildungspakt offiziell 15.650 Unversorgten hinzu, sind im Ausbildungsjahr 2012 insgesamt 76.029 junge Menschen ohne Ausbildungsplatz geblieben.
Es lohnt zudem ein Blick auf die 107.393 erfolglosen Bewerber, die zwar in einer Alternative geparkt wurden, ihren Ausbildungswunsch für dieses Jahr der BA gegenüber nicht mehr explizit aufrecht erhalten. Bei dieser Gruppe fällt auf, dass der Anteil der 24-Jährigen (47 Prozent) und über 24-Jährigen (58 Prozent) sowie der ausländischen Bewerber (45 Prozent) besonders hoch ist. Diese Beispiele deuten laut Bundesinstitut für Berufsbildung darauf hin, dass hier der „Verzicht auf weitere Vermittlungsunterstützungen durch die Arbeitsverwaltung nur zum Teil freiwillig“ erfolgte.
Ein realistischer Blick auf die tatsächliche Lage auf dem Ausbildungsmarkt lässt sich mit der Kategorie der ausbildungsinteressierten Jugendlichen erfassen. Sie setzt sich zusammen aus der Zahl der neuen Ausbildungsverträge sowie der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zwar den Bewerberstatus erhalten haben, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen haben.
Diese Statistik zeigt, dass von den 824.626 jungen Menschen, die im Laufe des Berichtsjahrs 2012 ein ernsthaftes Interesse an einer Ausbildung haben – und als ausbildungsreif deklariert wurden – lediglich 551.271 einen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben. Damit haben nur 66,9 Prozent dieser jungen Menschen eine Lehrstelle gefunden.
Auch differenziert nach der Staatsangehörigkeit zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede. „So fällt die Einmündungsquote der Ausbildungsinteressierten deutscher Staatsangehörigkeit um rund 30 Prozentpunkte höher aus als die der Ausbildungsinteressierten mit türkischer Staatsangehörigkeit.“
Die Gesamtschau der Daten zeigt: Die These, dass es in Deutschland mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber gibt, ist schlicht falsch. Von einem Bewerbermangel kann nicht die Rede sein. Während der Ausbildungspakt offiziell nur von 15.650 unversorgten Bewerbern spricht, zählt er allein 2012 exakt 273.355 junge Menschen als versorgt, die von der Arbeitsagentur als „ausbildungsreif“ eingestuft wurden, aber nicht in eine vollqualifizierende Ausbildung vermittelt wurden.
So wird die tatsächliche Lage bewusst verschleiert. Mit Hilfe solcher statistischen Tricks erscheinen die Bilanzen selbst in den Jahren des größten Ausbildungsplatzmangels als ausgeglichen. Auf diese Weise lässt sich auch erklären, dass einerseits der Pakt einen entspannten Ausbildungsmarkt beschreibt, zeitgleich aber mehr als 1,5 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Berufsabschluss bleiben. Die geschönte Bilanz hat fatale Auswirkungen: Sie suggeriert Jugendlichen, sie würden sich auf einem entspannten Markt bewegen – und den politischen Entscheidungsträgern, es gebe keinen Handlungsbedarf.
Die Ausbildungsbilanz der Pakt-Partner ist somit Teil des Problems auf dem Ausbildungsmarkt. Wir brauchen deshalb eine ehrliche Ausbildungsmarktstatistik, die Jugendlichen und politischen Entscheidungsträgern die tatsächliche Lage aufzeigt.
Der Autor ist Abteilungsleiter Bildung des DGB