Schillernde Uniwelt (2): Der die Käfer hört

Günter Tembrock ist der Begründer des deutschlandweit einzigen Tierstimmenarchivs - und forscht mit 90 Jahren immer noch weiter

Wer krabbelt da? Günter Tembrock kann es hören Bild: AP

Günter Tembrock ist 90 Jahre alt. Sein Gang ist nicht mehr ganz sicher, aber die grauen Augen sind klar und aufmerksam. Wenn er in seinem Bürosessel sitzt und über die unterschiedlichen Frequenzen von Rotfuchsrufen spricht, unterstreicht er mit faltigen, gepflegten Händen lebhaft seine Ideen. Er sprudelt über vor Kreativität und Tatendrang, überschlägt sich fast in seinen Sätzen. In seinem Kopf und Körper scheint die Lebensuhr unterschiedlich zu ticken.

Berlin ist die deutsche Hauptstadt der Wissenschaft: 4 Universitäten, 4 Kunsthochschulen, 4 Fachhochschulen, 12 Privathochschulen und etwa 140.000 Studierende. Dahinter verbergen sich viele Potenziale, viel Kreativität - und jede Menge schillernde, absonderliche oder skurrile Ideen. Die taz stellt in loser Folge einige Wissenschaftler und ihre Forschungsgegenstände vor. Diese Experten zeichnet das aus, was Wissenschaft eigentlich ausmacht: unbändige Neugier für das Abseitige und Neue. taz

Tembrock ist einer der wenigen übrig gebliebenen Universalgelehrten. Er ist Schriftsteller, Sänger, Künstler, Sammler, Literaturspezialist. Vor allen Dingen aber ist er einer der bedeutendsten Forscher in der Verhaltensbiologie - und der Begründer des deutschlandweit einzigartigen Tierstimmenarchivs.

In Tembrocks Leben gibt es zwei große Leidenschaften. Eine, die ihn seit seiner Kindheit begleitet, ist die Beschäftigung mit dem Empfangen und Senden von Tönen. Früher hatte er ein so präzises Gehör, dass er eine Käferart an ihren Krabbellauten erkennen konnte.

Die andere Leidenschaft ist das Sammeln. Im Tierstimmenarchiv vereinen sich die beiden Leidenschaften, und so ist es nicht verwunderlich, dass Tembrock derjenige war, der erstmals einen deutschen Fachbegriff für die Erforschung von Tierstimmen prägte: Bioakustik.

Das Tierstimmenarchiv ist kleiner als erwartet. In wenigen Schränken quetschen sich die Tonbandaufnahmen von Gibbonlauten neben denen von Tüpfelsumpfhuhnschreien und fiependen Babyeisbären. Ein Sammelsurium aus Lauten, deren Bedeutung in vielen Fällen ein Rätsel bleibt. Im Tierstimmenarchiv wird die Beziehung von Tierstimmen zueinander, also die tierische Kommunikation, erforscht. "Tiere kommunizieren nicht nur mit ihren direkten Artgenossen. Der Warnruf einer Amsel kann auch von einem Hirsch wahrgenommen werden", sagt Tembrock.

Die Aufnahmen sind penibel beschriftet, bei jedem Ton ist es wichtig, auch die Umstände der Situation zu kennen. So steht auf einem Tonband vom 20. 5. 1961: "Argusfasan. Rufreihe, Fasan brach ab, als Taube oben auf das Gitter flog, blickte zur Taube."

Seit 71 Jahren verbringt Tembrock die meisten seiner Tage in dem alten Gebäude der Biologischen Fakultät. Zuerst kam er als Student, dann als Hilfsassistent, später als Professor und Direktor des Bereichs Verhaltensbiologie und Zoologie. Seine Raumnummer hat er nicht parat, "aber es wissen ja alle, wo ich bin". Auch nach seiner Emeritierung 1983 ist Tembrock an der Fakultät geblieben. "Es gibt immer noch so viel zu tun", sagt er. "Aber heute mache ich alles umsonst."

Das Arbeitszimmer ist bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft und verströmt die Atmosphäre althergebrachter Gelehrsamkeit. An den Wänden hängen selbstgezeichnete Porträts von Max Planck und dem Fuchs Franzl, einem alten Gefährten aus der Zeit von Tembrocks Forschungen an Rotfüchsen.

Tembrock dreht sich um und zeigt aus dem Fenster in den Hof des Unigebäudes: "1951 bekamen wir ein Tonbandgerät für den Aufbau des Tierstimmenarchivs. Beim Ausprobieren flog plötzlich ein Waldkauz vorbei - das war dann die erste Aufnahme."

Die Waldkauzstimme markiert die Nummer eins im Tierstimmenarchiv. Die meisten Tierstimmen hat Tembrock selbst gesammelt, vor allem bei seinen vielen Besuchen im Berliner Zoo. "Ich geh doch nicht ohne Aufnahmegerät in den Zoo", antwortet er entrüstet auf die Frage, ob er noch immer sammele.

Seine Laufbahn an der Universität verdankt Tembrock einer eigentlich lebensbedrohlichen Krankheit. "Im Arbeitsdienst bekam ich eine schwere Lungentuberkulose und wurde 1941 ausgemustert", erzählt er. Die Ausmusterung rettete ihm vielleicht das Leben. Noch in der Kaiserzeit geboren, hat er zwei Weltkriege, die Teilung Deutschlands, das Leben in der DDR und den Mauerfall erlebt. "Mein Leben ist mir manchmal ein Rätsel", schmunzelt er.

Politisch war Tembrock immer ein Außenseiter. Während seine Klassenkameraden in die HJ gingen, erschuf er mit seinem Bruder fantasievolle politische Idealstaaten, "in denen alle Menschen nebeneinander wohnen". Im Studium musste er sich immer wieder den Begehrlichkeiten der Nazis entziehen, in der DDR gegen massive Restriktionen in der Forschung kämpfen.

Dabei hat er sich in seinem Forscherdrang nie bremsen lassen.

Günter Tembrock ist eine Institution - als Forscher und als Mensch. Die Humboldt-Uni hat bereits zu seinem 85. Geburtstag ein bronzenes Porträt von ihm anfertigen lassen. Tembrock kann sich immer noch wundern und sagt gerne: "kurios". Vielleicht hat er sich deswegen diesen unstillbaren Drang bewahrt, Dinge zu erforschen.

Dabei ist die intensive Auseinandersetzung mit seiner eigenen Person Teil seiner Forschung und seines Lebens. Tembrock hat sein eigenes Gesicht oft gezeichnet, die Entwicklung seiner Stimme über die Jahre verfolgt. Er macht nicht der Eindruck eines Mannes auf Selbstfindungswegen. Viel eher scheint es, als wäre sein Forschungsdrang auch dann nicht zu bändigen gewesen, wenn kein anderer Forschungsgegenstand da war als er selbst.

Vor einiger Zeit hat Tembrock mit den Vorarbeiten zu einer Autobiografie angefangen. "Sie soll reflexiv werden, nicht persönlich." Als Quelle dienen ihm seine zahlreichen Korrespondenzen und die Tagebücher, die er seit seinem 12. Lebensjahr kontinuierlich führt.

Universalgelehrte wie Tembrock sind ein vom Aussterben bedrohter Menschenschlag. "Das subjektive Erleben der Zeit ändert sich", sagt Tembrock mit Blick auf einer immer schnellere, spezalisiertere und kleinteiligere Welt. Wenn Tembrock an die Zukunft denkt, prognostiziert er die Verdrängung der breitgefächerten Verhaltensbiologie durch spezialisierte Forschungsfelder wie die Neurobiologie und die Genetik. "Warum?", fragt er sich selbst und antwortet: "Es ist mir völlig unbegreiflich."

Die Betreuung des Tierstimmenarchivs hat mittlerweile ein jüngerer Kollege Tembrocks übernommen. Ganz auf der Höhe der technischen Entwicklung sind auch für Waldkauz, Gibbon und Co. neue Zeiten angebrochen. Ein Großteil der Tierstimmen wurde bereits digitalisiert. Einige haben sogar den Sprung in die Popkultur geschafft - sie sind gegen eine kleine Spende als Klingelton für das Handy runterladbar.

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