Interview mit Hoffenheim-Trainer Rangnick: "Flach und präzise nach vorne"

Vor zehn Jahren revolutionierte Ralf Rangnick den deutschen Fußball durch sein "Spiel gegen den Ball". Jetzt hat er den Aufsteiger TSG 1899 Hoffenheim an die Spitze der Bundesliga gebracht.

Der neue Star unter den deutschen Fußballtrainern. Bild: ap

taz: Herr Rangnick, Sie haben vor zehn Jahren in der taz dem deutschen Fußball ein taktisches Armutszeugnis ausgestellt. Was hat sich geändert?

Geboren: 29. Juni 1958 in Backnang.

Beruf: Fußballtrainer.

Besonderes Merkmal: Gehört zur Generation der modernen Trainer, die selbst keine Super-Profis waren. Spielte 3. Liga.

Laufbahn: Wegbereiter des Bundesligaufstiegs des SSV Ulm 1999, Zweitligameister mit Hannover 2002, Bundesligavizemeister mit Schalke 2005, seit Juni 2006 bei Hoffenheim: Aufstieg in die 2. Liga 2007, Aufstieg in die Bundesliga 2008.

Hoffenheim: Liegt in Baden-Württemberg, hat 3.700 Einwohner und ist ein Stadtteil von Sinsheim, Rhein-Neckar-Kreis. Die TSG stand Anfang der 90er vor dem Abstieg in die Kreisliga, als der SAP-Gründer und Multimilliardär Dietmar Hopp sich seines Heimatclubs annahm. Der Aufstieg begann. Doch erst mit Rangnick ging es richtig ab.

Bundesligatabelle nach elf Spieltagen:

1. 1899 Hoffenheim 25 Punkte

2. Bayer Leverkusen 24 Punkte

3. FC Bayern München 21 Punkte

4. Schalke 04 20 Punkte

Ralf Rangnick: Sehr viel. Fast alle Mannschaften haben damals mit Manndeckern und Libero gespielt, nur drei oder vier ballorientiert in Raumdeckung. Das ist inzwischen völlig anders. Selbst in der Bezirks- und Landesliga wird hinten mit einer Viererabwehr gespielt.

Ist damit alles gut?

Die Tatsache, dass ich eine Viererkette aufstelle, sagt noch nichts über die Qualität des ballorientierten Spiels aus. Aber insgesamt hat in Deutschland ein gesamtmannschaftstaktisches Abwehrverhalten Einzug gehalten, wo es darum geht, Räume zu verdichten, Längen zu verkürzen und Breiten zu verschmälern, um es dem Gegner möglichst schwer zu machen. 20 Jahre später als in anderen Ländern, aber immerhin. Kurioserweise hat sich dieser Wandel im Jugendbereich schneller vollzogen als bei den Erwachsenen. Die Veränderung kam eher von unten und nicht von oben.

Wenn alle ballorientiert spielen, was macht heute den Unterschied aus?

Als ich den SSV Ulm trainierte, war das Spiel gegen den Ball unsere große Waffe: Wie können wir dem Gegner möglichst schnell und systematisch den Ball wegnehmen? Mit rein fußballerischen Mitteln hätten wir keine Chance gehabt. Qualitätsunterschiede wurden durch taktisches Arbeiten kompensiert. Heute ist bei fast jedem Gegner eine gewisse kompakte Grundorganisation vorhanden. Früher gewann man einen Zweikampf und hatte erst einmal Open Space. Jetzt muss man Mittel und Wege finden, wie man in engen Zonen den Gegner überwindet und zum gegnerischen Tor gelangt. Wir versuchen, ähnlich wie Leverkusen, extrem aggressiv gegen den Ball zu spielen, aber trotzdem eine hohe Qualität des eigenen Ballbesitzes anzustreben.

Wie hat sich Ihre Arbeit heute in Hoffenheim gegenüber damals verändert?

Stark. In Ulm haben wir von den taktischen Einheiten 70 Prozent Ballbesitz des Gegners trainiert. Dafür braucht man keine überragenden Fußballer.

Deshalb haben Sie gesagt: Geben Sie mir 16 Mittelstreckenläufer, und die sind in vier Wochen in der Lage, ballorientierte Raumdeckung zu spielen.

Genau. Jetzt trainieren wir höchstens noch 20 Prozent gegen den Ball, wo es darum geht, Bälle zu jagen und das Pressing auch physisch abzuverlangen. Der zeitliche Anteil für das Spiel bei eigenem Ballbesitz ist deutlich größer geworden.

Viel Ballbesitz gilt als Zeichen von Dominanz.

Es ist erstrebenswert, den eigenen Ballbesitz stabil zu halten. Aber es geht nicht darum, 50 oder mehr Prozent Ballbesitz zu haben und dann trotzdem zu verlieren. Es kommt nicht auf die Quantität des Ballbesitzes an. Wenn der Ball zwei Minuten quer über den Platz und wieder zurück gespielt wird, kostet das nur Zeit. Für mich geht es darum, das Spiel, wann immer möglich, schnell zu machen, indem ich flach und präzise nach vorne spiele. Ein Querpass hat nur dann eine Berechtigung, wenn er dazu dient, woanders eine Lücke zu finden, nach vorne zu kommen.

Sind Kraft und Schnelligkeit wichtiger geworden, um taktische Ziele zu erreichen?

Das Anforderungsprofil an Spieler und Positionen ist enorm gestiegen - auch ein Merkmal der taktischen Entwicklung. Die Laufintensität hat sich deutlich erhöht, 14 Kilometer sind keine Ausnahme mehr, teilweise in allerhöchstem Tempo. Gerade Abwehrspielern wird mehr abverlangt. Die Viererkette ist nicht nur ein defensiv taktisches Mittel, sondern auch das erste Mittel für die Spieleröffnung bei eigenem Ballbesitz. Verteidiger müssen auch im Spielaufbau Bälle beherrschen, den langen Flugball diagonal, möglichst mit links und mit rechts.

Und Stürmer?

Stürmer sind die ersten Störspieler, sie müssen sehr viele Wege gegen den Ball machen. Es reicht nicht mehr, wie Gerd Müller vorne auf seine Chancen zu lauern. Gefragt sind eine exzellente Grundlagenausdauer, gepaart mit Schnelligkeit und Mobilität.

Sie setzen in Hoffenheim auf extrem schnelle Spieler.

Die Kombination Technik und Schnelligkeit ist absolut leistungsbestimmend. Aber auch Körpergröße ist wichtig geworden bei Standards, bei langen, hohen Bällen. Bei allen internationalen Spitzenteams findet man zwischen sieben und acht Spieler, die 1,85 Meter und größer sind. Mit einer Mannschaft, in der sechs oder sieben Spieler nur 1,80 oder kleiner sind, kann man international und auch national nicht mehr erfolgreich sein.

Spanien ist Europameister geworden.

Zugegeben: Da standen nicht viele Riesen auf dem Platz. Entscheidend ist, dass die Großen richtig gut kicken können müssen.

Sie haben viel Geld in ausländische Stürmer investiert.

Die wenigen deutschen Topstürmer spielen in München und Leverkusen. Alle Qualitäten sind trainierbar, aber individuelle Klasse in der Offensive nur eingeschränkt. Deshalb haben wir vor allem in den Sturm investiert. Aber Offensivfußball ist für mich weniger eine Frage des Budgets als der Persönlichkeit und Mentalität der Trainer. Ich halte es wie Arsène Wenger: In der kostbaren Trainingszeit, die wir haben, müssen wir möglichst viel lohnend mit dem Ball trainieren. Zentrales Ziel muss es sein, die Spieler zu besseren Fußballern zu machen.

Das wird in Deutschland zu wenig gemacht?

Das will ich nicht beurteilen. Aber seit ich hier bin, hat sich auch die Qualität unserer Trainingsarbeit deutlich verbessert. Wir haben Spiel- und Übungsformen, da hätte ich vor zwei Jahren nicht daran geglaubt, dass sie im Fußball umsetzbar sind. Am Anfang dachte ich, dass sie nur im Hockey funktionieren.

Verraten Sie uns eine Übung?

Eine Spielform heißt "Streifen" oder "Banane", weil das Spielfeld auf einen sehr schmalen Korridor reduziert wird, der aber in einem normalen 16-Meter-Raum mündet. Erlaubt sind maximal drei Ballkontakte, nur flaches Spiel, Rück- oder Querpässe sind verboten. Die Spieler werden durch Regeln gezwungen, extrem den vertikalen Blick durch die Gassen und Zonen zu üben. Ein anderes Beispiel: Das Spielfeld hat in der Mitte eine Tabuzone, die darf nicht betreten und auch nicht durchspielt werden. Meine Profis wissen: Das ist wie ein Loch, 100 Meter tief. Wer da durchläuft, ist tot. Dadurch wird das Zonenspiel über die Außen verbessert.

Sehen Sie Resultate im Spiel?

Eindeutig, die Spieler haben sich dadurch verbessert. Wir können nicht nur fordern, dass öfter steil gespielt wird. Wir müssen den Spielern immer wieder Spielformen geben mit Provokationsregeln, die das Spiel, das wir nicht mehr wollen, ständig zurück, quer und nochmals quer, gar nicht erlaubt.

Haben Sie das früher nicht trainiert?

Doch, aber nicht in komplexen Spielformen. Wir müssen die Spieler immer wieder in Entscheidungssituationen bringen. Spiel ich den Ball in die Schnittstelle oder gehe ich ins Dribbling? Ein bisschen wie Multiple Choice: entweder oder. Nur so lernen sie, die jeweils richtige Entscheidung zu treffen. Bei der Taktik steckt der Teufel im Detail.

International hat sich das 4-2-3-1-System etabliert, Sie lassen meist im 4-3-1-2 spielen.

Das 4-2-3-1 ist theoretisch die einfachste Spielweise, weil es kein extremes Verschieben erfordert, um Ordnung herzustellen. Unser System ist laufintensiver und braucht mehr Feintuning, damit die Spieler wissen, wann sie wen wo anlaufen müssen. Aber es hat den Vorteil einer enormen Variabilität und Flexibilität. Darum geht es immer wieder: die Mischung, die Balance zu finden zwischen einem Maximum an Flexibilität, also für den Gegner möglichst nicht zu packen zu sein. Und einem Mindestmaß an Ordnung und Symmetrie, um nicht vom Gegner überspielt zu werden.

Ist das die alles entscheidende Frage im modernen Fußball?

Ja, darum geht es für mich immer. Nur die Rahmenbedingungen verändern sich: Je besser das taktische Niveau, umso mehr machen es die Nuancen aus.

Die Bundesliga bietet momentan Spektakelfußball, offensiv attraktiv, defensiv anfällig. Stimmt da die Balance?

Wir ziehen nicht durch das Land mit dem Ziel, fünf Tore zu schießen, um den Preis, auch so viele zu kassieren. Bei uns stimmt die Balance insgesamt, wir haben die meisten Zu-null-Spiele und die wenigsten Großchancen für den Gegner zugelassen. Auch beim 5:4 in Bremen hat kein Defensivpatzer den anderen abgelöst. Es waren systematisch hervorragend herausgespielte Tore.

Ist die Entwicklung vom ballorientierten Verhinderungsfußball hin zum lustvollen Angriffsspektakel die logische Konsequenz der taktischen Revolution?

Vor zehn Jahren haben wir begonnen die Defizite in der ballorientierten Defensivarbeit aufzuholen, jetzt arbeiten einige Trainer verstärkt an der Qualität ihres Offensivspiels und dessen taktischen Möglichkeiten. Mit dem Ziel eines möglichst attraktiven Spiels, in dem durch taktische Mittel viele Tore geschossen und wenig zugelassen werden. Aber es sind noch zu wenige Trainer, um einen Trend ausrufen zu können. Man hat in Deutschland noch nicht richtig erkannt, dass dieses Offensivspiel immer wieder bedingungslos trainiert werden muss. Dabei lehrt uns das Spiel doch, was wir zu trainieren haben: Wir haben zwar aufgeholt, was Ballkontrolle bei Gegnerdruck und hohem Tempo angeht. Aber da sind uns die Spitzenteams aus England, Italien oder Spanien noch voraus.

Ist die Bereitschaft, taktisch zu arbeiten, im deutschen Fußball gestiegen?

Als ich den VfB Stuttgart trainiert habe, da kamen schnell die Stimmen: Das macht keinen Spaß, Trainer, lass uns fünf gegen zwei spielen. Wie soll ich mich denn im sogenannten "Gammeleck" verbessern? Ich kann nicht ignorieren, was das moderne Spiel erfordert. Wir haben uns zu lange zu Sklaven der Gewohnheiten unserer Spieler machen lassen. Inzwischen hat sich das gewandelt. Aber wir haben Rückstände, was auch die EM gezeigt hat. Da war selbst das Spiel gegen den Ball für mich ein Rückschritt. Dass wir taktisch noch immer hinterherhinken, liegt auch daran, dass unsere Spieler viel zu lange die Annehmlichkeiten eines in erster Linie spaßorientierten Trainings gewohnt waren.

INTERVIEW: RAINER SCHÄFER

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