Debatte Marktwirtschaft: Liberalismus als Religion

Der Glaube an die "unsichtbare Hand des Marktes" hat irrationale, mystische Wurzeln. Diese Vorstellung hat unser Denken geprägt. Die Finanzkrise zwingt zur Neuorientierung.

Von den selbstheilenden Kräften des Marktes ist jetzt keine Rede mehr. Aber warum konnte diese Auffassung überhaupt so viele Anhänger gewinnen? Der Liberalismus ist ja keine Religion, an der man auf Gedeih und Verderb festhalten muss. Oder doch?

Der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow (1887-1963) war dieser Meinung. Er gehörte zu denen, die zwar liberal dachten, der Wirtschaft aber staatlicherseits feste Rahmenbedingungen geben wollten. Der Ultraliberalismus hatte nach seiner Ansicht ein quasireligiöses Verhältnis zu den Mechanismen des Marktes. Die Automatik von Angebot und Nachfrage, die - sich selbst überlassen - alles zum Guten führe, werde überschätzt. Diese Überschätzung habe irrationale, mystische Grundlagen.

Rüstow gehörte mit Walter Eucken der Schule der Ordoliberalen an, die dafür plädierten, dass ein starker Staat die - im Übrigen freie - Wirtschaft in der Weise kontrolliere, dass er Kapitalverflechtungen, wirtschaftliche Agglomerationen und Kartelle rigoros verbietet. "Das freie Spiel der Kräfte", das den Markt reguliert, bleibe nur unter dieser Bedingung frei. Andernfalls seien katastrophale Dominoeffekte zu befürchten, wie sie zu ihrer Zeit die Weltwirtschaft in eine Katastrophe gerissen hatten.

In seiner kleinen Schrift "Die Religion der Marktwirtschaft" belegte Rüstow die religiöse Grundlage der Laisser-faire-Ideologie mit den Worten von Adam Smith. Wenn dieser Begründer des Liberalismus dem staatszentrierten Merkantilismus seiner Zeit entgegenhielt, dass das Allgemeinwohl nicht durch staatliche Lenkung herzustellen sei, so berief er sich auf göttliches Wirken. Hinter der berühmten "unsichtbaren Hand" verbarg sich nach Smiths Überzeugung die "Vorsehung eines weisen, mächtigen und gütigen Gottes". Auch das egoistische Einzelinteresse diene in dieser Vorstellung dem Wohle des Ganzen. Jede äußere Einmischung könne da nur schaden, so Smith: "Wenn wir anders handeln, dann durchkreuzen wir den Plan, den der Schöpfer der Natur zur Herbeiführung der Glückseligkeit und Vervollkommnung der Welt entworfen hat, und erklären uns, wenn ich so sagen darf, zu Feinden Gottes."

Das sei Schnee von gestern, können die Ultraliberalen sagen. Ihr Vertrauen in die selbstheilenden Kräfte beruhe vielmehr auf Theoremen, die wissenschaftlich-rationaler Natur seien. Betrachten wir diese Theoreme also genauer, denn jede Philosophie ist immer in einen bestimmten Zeitgeist eingebettet, dem sie folgt. (Oder hatte Marx etwa Recht, wenn er meinte, dass sich die kulturelle Gesamtströmung einer Zeit den wirtschaftlichen Bedürfnissen anpasst?) Die Achtziger- und Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren erfüllt von der Idee der Selbstregulierung. Es sei ein Irrtum, dass man sich hilfreich in die Dinge einmischen könne; sie seien zu komplex, als dass man sie durchschauen oder ihnen womöglich aufhelfen könnte.

Der Begriff "Komplexität" ist zu einem Wunderwort geworden. Denn die Komplexität von Verhältnissen wird nicht mehr als Problem angesehen, das gelöst werden müsse zugunsten von Klarheit und Überschaubarkeit - im Gegenteil, die Komplexität kann gar nicht hoch genug und die Verwirrung gar nicht groß genug sein. Sogar das Chaos scheint erstrebenswert. Denn nach dieser Meinung kann sich in der tausendfachen Verwobenheit der Elemente und der dadurch entstehenden Undurchsichtigkeit und Unbeherrschbarkeit eines Systems die intrinsische Kraft der Selbstregulierung erst richtig entfalten.

Am schärfsten artikulierte sich der philosophische Ultraliberalismus in der Systemtheorie von Niklas Luhmann. "Oh rühre nicht daran!" war die Devise seiner zahlreichen Werke, in denen er in immer neuer Begrifflichkeit, in immer neuen Metaphern und immer unverständlicheren Arabesken dasselbe sagte: Von alleine laufen die Dinge besser, Einwirkung kann nur schaden. Alles linear Gerichtete ist verkehrt; richtig ist nur das auf sich selbst Zurückgebogene, das in immer wechselnden Bezeichnungen auftritt: "Selbstreflexivität, "Selbstrestitution", "hyperzyklische Selbstschließung", "selbstreferentielle Zirkel" und so weiter.

Zunächst waren die Bilder des automatisch Wirkenden noch der Mechanik entnommen, der Kybernetik, die in den Sechzigerjahren in Mode gekommen war. Die thermostatische Selbstregulierung eines Kühlschranks, der seine Wärme ohne äußere Einwirkung stabil hält, diente als Vorbild, nach dem Systeme optimal funktionieren. Mit den Jahren wurden die Metaphern aber immer biologischer. Von "organisch" und "organismisch" mochte man nicht sprechen, da diese Begriffe in Deutschland einen schlechten Beigeschmack haben; immer offener aber wurde die Kraft, die die Griechen "Automatia" nannten, mit der geheimnisvollen Kraft verglichen, die lebendige Organismen haben. "Autopoiese" - diese biologische Bezeichnung erhielt die Kraft der Selbsterhaltung in der Systemtheorie.

Organismen sind ja tatsächlich Systeme, die ihre Elemente selbst herstellen und durch ein kompliziertes, durch Verbesserungsabsichten nur zu störendes Zusammenspiel am Leben halten. Das organische Zusammenwirken hat zu allen Zeiten als Metapher gedient, wenn es galt, radikale Änderungen der Verhältnisse zu verhindern - angefangen mit Menenius Agrippa, der mit der Fabel über den Magen und die Glieder die aufsässigen Plebejer beruhigte.

Eine organische Staatstheorie kam in Deutschland auf, um den Einfluss der Französischen Revolution zu begrenzen. Sie wurde gestützt durch die Romantik, die das stillwaltende Weben vegetativer Kräfte verehrte. Dem zielgerichteten menschlichen Wirken, das in Frankreich in die Katastrophe geführt hatte, schien es in dieser Epoche überlegen.

In unserer Zeit tritt die Ablehnung menschlicher Einwirkung vielen verschiedenen Formen auf. Sie kennzeichnet die Postmoderne, die in ihren Überspitzungen meint, man könne keinen Einfluss auf die Abläufe nehmen, weil es in Wirklichkeit weder Ursachen noch Wirkungen gebe. Kausalität sei lediglich eine kulturelle Konstruktion. Im Zuge dieser hemmungslosen, unverantwortlichen Auflösungen der philosophischen Grundauffassungen wurde auch das Subjekt-Objekt-Schema aufgelöst; in einer Art Pantheismus wurden alle Elemente des Daseins gleichberechtigt nebeneinandergestellt. Dass man dabei im Grunde von dem speziellen Subjekt Staat und dem speziellen Objekt Gesellschaft sprach, blieb meistens verborgen; es konnte aber in Festreden im richtigen Moment hervorgeholt werden, wenn es darum ging, sich für Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung einzusetzen.

Solche Philosophie hat das frivole, hedonistische Sich-treiben-Lassen des letzten Jahrzehnts unterstützt, das jetzt seinen Preis fordert. Der gesamte Zeitgeist ist von dieser Überzeugung durchtränkt. Deshalb befinden wir uns jetzt nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer generellen geistigen Krise.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.