: Die taz-Popcharts 2009
Drei Alben des Jahres
Tim Caspar Boehme ist freier taz-Autor
1. Andromeda Mega Express Orchestra „Take Off!“: Genie und Größenwahn rüsten zum extraterrestrischen Free Jazz im Bigband-Format. 2. Whitetree „Cloudland“: Klavier, Elektronik und Drums – so entwaffnend selbstverständlich macht Pop richtig Spaß. 3. Grizzly Bear „Veckatimest“: die schönsten Harmoniegesänge des Jahres
Laura Ewert ist freie taz-Autorin
1. Mumford&Sons „Sigh No More“: „Love that will not betray you, dismay or enslave you / It will set you free“ 2. The Phenomenal Handclap Band „s/T“: Das Disco-Revival trägt ganz wunderbare Früchte, das hier ist eine Kirsche. 3. Volcano Choir „Unmap“: Musik, die man der Welt in kalten Nächten entgegensingen möchte, ein Album für immer
Julia Grosse ist taz-Kunstkorrespondentin
1. La Roux „La Roux“: Elly Jackson schafft es, die besten Aspekte der Achtziger in unsere Erinnerung zurückzuholen. 2. Kamaal „The Abstract“: Kaum zu glauben, dass Q-Tip dieses frisch klingende Album bereits 2001 eingespielt hat. 3. Antony & The Johnsons „The Crying Light“: Heilig, hysterisch, theatralisch, tief, traurig, erschlagend, prätentiös, perfekt
Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz
1. Daniel Kahn & The Painted Bird „Partisans & Parasites“: Ein Feuerwerk pumpender Polkas, jiddischer Arbeiterlieder und schauriger Moritaten 2. Marseille Figs „Jumbo“: Neue EP der drei kleinen Männer mit den großen Songs, diesmal mit Schlagzeug 3. The Rapture „Tapes“: Die beste digitale Mixkassette seit Jahren, Manifest für Disco, Funk und goldene 90er
Ulrich Rüdenauer ist freier taz-Autor
1. Bibio „Ambivalence Avenue“: Alle Spielarten populärer Musik treffen sich bei Bibio und kommen sich nicht in die Quere. 2. Dirty Projectors „Bitte Orca“: Dave Longstreth hat in seiner Jugend Black Flag gehört und Le Mystère de Voix Bulgares. 3. Daniel Johnston „Is and Always Was“: Wenn Paul McCartney manisch-depressiv wäre, er würde solche Musik machen
Arno Frank leitet das Ressort taz zwei
1. BLK JKS „After Robots“: Psychedelisch verrutschende Klanglandschaften aus Südafrika, auf die ein warmer Regen aus Zulu-Rhythmen prasselt. 2. Mumford & Sons „Sigh No More“: Old-School-Folkrock, schwelgend und druckbetankt, die britische Antwort auf die Fleet Foxes. 3. Mastodon „Crack the Skye“: Metal auf LSD … mit Hang zu den Beach Boys
Kirsten Riesselmann ist taz-Autorin
1.Grizzly Bear „Veckatimest“: Grizzly Bear halten in Sachen Verstrahltheit und Ideenreichtum mit den Beach Boys mit. 2. Kevin Blechdom „Gentlemania“: Die Frau mit dem Männernamen wildert stilbewusst in den Feldern verstaubter Opulenz. 3. Fever Ray „s/T“: Karin Dreijer Anderssons elektronisch verdrehter Gothic-Sound ist der Krise angemessen
Klaus Walter ist freier taz-Autor
1. Various Artists „5 Years of Hyperdub“. 2. Trus’me „In the red“. 3. Prefab Sprout „Change the World with Music“: Das neue alte Prefab-Sprout-Album fordert, was Hyperdub und Trus’me tun. Und umgekehrt. Sie verändern Musik mit Welterrungenschaften, siehe auch Punkt vier
Julian Weber ist Musikredakteur der taz
1. Dirty Projectors „Bitte Orca“: Große, komplizierte Popmusik, die das Verstiegene wie Easy Listening behandelt. 2. The XX „s/T“: Chris Isaac für Geisterfahrer 3. Telepathe „Dance Mother“: Zwei Brooklynerinnen machen Neo-Tribal mit gehörigem Arschwackelpotenzial
Thomas Winkler ist taz-Autor
1. The Gossip „Music for Men“: Die dicke Frau aus den Klatschspalten macht ziemlich flotte Musik. 2. SunnO))) „Monoliths & Dimensions“: Lärm, der die Zeit stillstehen lässt. 3. Glasvegas „Glasvegas“: Braucht die Welt Kitchen-Sink-Rockabilly-Epen? Braucht sie!
Eine Hymne des Jahres
Tim Caspar Boehme ist freier taz-Autor
GusGus „Add This Song“: Der Beweis, dass Synthiepop im Großleinwandformat immer noch funktioniert. Unbedingt in voller Länge einzunehmen!
Laura Ewert ist freie taz-Autorin
Lady Gaga „Paparazzi“:
It’s gagaism, bitch
Julia Grosse ist taz-Kunstkorrespondentin
Dizzee Rascal & Armand van Helden „Bonkers“: Vollkommen übergeschnappter, absolut antizyklischer Brutaltanzflächenstampfer, der Lachkrämpfe auslöst und der Berliner Minimal-Gähn-Clubkultur den ausgestreckten Mittelfinger zeigt
Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz
Jim O’Rourke „The Visitor“: Das ist ein episches Gedicht in Albumlänge mit erstaunlichen Breaks, das eine Konzentration der Sinne und alsbald gute Stimmung bewirkt. Hippiesk und nachhaltig
Ulrich Rüdenauer ist freier taz-Autor
Grizzly Bear „Cheerleader“: Bester Popsong (des Jahrzehnts), an dem auf irgendeine übernatürliche Weise Phil Spector mitgebastelt haben muss
Arno Frank leitet das Ressort taz zwei
„Das Lied der Deutschen“ Die erste Strophe („… über alles, über alles in der Welt“), zur Akustikgitarre vorgetragen von Peter Doherty – zwecks erfolgreicher Provokation eines Publikums, das musikalisches Studentenfutter gewohnt ist (Kettcar)
Kirsten Riesselmann ist taz-Autorin
Dizzee Rascal & Armand Van Helden „Bonkers“: Bester, dickster, prolligster Beat, beste Kombination: Dizzee Rascal und Armand Van Helden
Klaus Walter ist freier taz-Autor
Jacques Palminger & Shackleton „Tüdeldub (Shackleton Remix)“: Pudelclubhumor schreckt viele ab, der Londoner Produzent Shackleton reintegriert mit seiner Version der Palminger-Interpretation des alten Hamburger Volksliedes „Tüdelband“
Julian Weber ist Musikredakteur der taz
House of House „Rushing to Paradise (Walkin’ These Streets)“: Tiefer als der Marianengraben: Ein Deephouse-Track wie eine langanhaltende balsamierende Dusche
Thomas Winkler ist taz-Autor
„Don’t Stop, Til You Get Enough“ oder sonst irgendwas von Michael Jackson
Konzert/Popmonstermoment
Tim Caspar Boehme ist freier taz-Autor
Selbst im Ableben noch postum exzentrisch, war auch der Rummel um den Tod des letzten Popmonarchen Michael Jackson ganz großer Pop
Laura Ewert ist freie taz-Autorin
Der Tod von Michael Jackson: Welch eine Nacht, in der die Welt vereint schien, in der alle ihre Plattensammlung durchsuchten. Die Nacht, in der man das letzte Mal „Billy Jean“ ertragen konnte
Julia Grosse ist taz-Kunstkorrespondentin
Anish-Kapoor-Ausstellung in der Royal Academy, London. Wegen der Kanone, die mehrmals täglich eine Ladung blutroten Wachs in die Räume schoss. Wie haben sie das am Ende der Schau wieder von den Wänden bekommen?
Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz
Janelle Monáe im Berliner Violet Club: Die Rückkehr des Rock ’n’ Roll in Gestalt einer zierlichen Frau mit massiver Stimme, die einen Sturm entfesselt. Wer da war, wird es nicht vergessen. Nächstes Jahr kommt sie wieder
Ulrich Rüdenauer ist freier taz-Autor
Das Wayne Shorter Quartet demonstrierte in Heidelberg, wie sich zeitgenössischer Jazz anhören kann, der die letzten 50 Jahre mitreflektiert. Die schönste Begrüßung: „Hallo, wir sind Jochen Distelmeyer“ (Berlin, 17. November)
Arno Frank leitet das Ressort taz zwei
Die Sehnen am Hals von Robin Pecknold (Fleet Foxes), wie er ganz am Ende des Konzertes bei ausgeschalteten Verstärkern und eingeschaltetem Saallicht vorne am Bühnenrand hockt, mit nackter Stimme alleine den Saal füllen will – und scheitert
Kirsten Riesselmann ist taz-Autorin
Am Jahresanfang beerdigen diverse Pop-Symposien das Format Popkultur in seiner bisherigen Form. In der Folge kotze ich PJ Harvey, die nichts mehr zu sagen hat, quasi direkt vor die Füße – und dann stirbt auch noch Michael Jackson
Klaus Walter ist freier taz-Autor
Der Siegeszug der geschminkten Stimme. Dank Autotune-Effekt können wir Stimmen jetzt im Spiegel sehen und kosmetisch bearbeiten. Freunde des Authentischen haben endlich wieder einen Feind
Julian Weber ist Musikredakteur der taz
Über Michael Jacksons Ableben während eines Umzugs zu schreiben. In meinen Umzugskisten kommen plötzlich mehrere Kopien von „Thriller“ zum Vorschein. Woher sind sie?
Thomas Winkler ist taz-Autor
Michael Jacksons Wiederauferstehung von den Toten. Was sonst?
Top of the Flops
Tim Caspar Boehme ist freier taz-Autor
Culcha Candela „Schöne neue Welt“. Die geilste Musik dieser Welt? Nein, pseudohippes Mackertum, das nicht mal Angst macht, sondern monstermäßig schlechte Laune
Laura Ewert ist freie taz-Autorin
Die Gedenkfeiern zu 20 Jahre Mauerfall. Die Mauer verläuft nicht zwischen den Ländern, sondern zwischen den Geschmäckern
Julia Grosse ist taz-Kunstkorrespondentin
Die anhaltende Beatle-Mania: The Beatles als neugemasterte Gesamtausgabe, das Videospiel „Rock Band – The Beatles“, Paul McCartney singt bei X Factor – hört das niemals auf?
Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz
Die müden Versprechungen, der dünne Firnis, der die hemmungslose Verfolgung von Partikularinteressen der upper middleclass überdecken soll, kurz: Schwarz-Gelb
Ulrich Rüdenauer ist freier taz-Autor
Total gefloppt: die Schweinegrippe und die SPD
Arno Frank leitet das Ressort taz zwei
Guido Westerwelles hilflos beifallheischendes Armrudern bei seiner provinziell-patzigen Auskunft an einen BBC-Korrespondenten: „Das ist Deutschland hier“. Wo bleibt der ultimative Techno-Remix dieses historischen Satzes?
Kirsten Riesselmann ist taz-Autorin
„Wir zahlen nicht für eure Krise“ ist dem Kapitalismus scheinbar grad egal, die Spex halluziniert eine Tonne Nudeln als Pop-Zeitgeist, und in „Inglorious Basterds“ ist dann noch der Nazi die interessanteste Figur
Klaus Walter ist freier taz-Autor
Die Unmöglichkeit, Gegenwartsmusik wie die des Londoner Dubstep-Labels Hyperdub auch nur in qualifizierte Minderheitsdiskurse einzuspeisen
Julian Weber ist Musikredakteur der taz
Rammstein und ihr oberschweineödes Provogehabe, das mit dem Marketingaufwand eines Discounters vorausberechnet ist
Thomas Winkler ist taz-Autor
Michael Jacksons Tod. Hat schließlich nicht wirklich stattgefunden. Oder?
Aargh-Enda 2010
Tim Caspar Boehme ist freier taz-Autor
Schluss mit der Debatte um Internetsperren für illegale Downloader! Polizeimaßnahmen sind das Letzte, was das Internet braucht
Laura Ewert ist freie taz-Autorin
Nachdem 2009 das Jahr mit den schlimmsten Alben der schlimmsten deutschen Bands war, wird Tocotronic diesen Umstand 2010 zumindest wieder ein wenig gutmachen
Julia Grosse ist taz-Kunstkorrespondentin
Fußball-WM in Südafrika: Dieses Ereignis wird großartig und daher sollte man jetzt schon seinen Flug buchen
Ulrich Gutmair ist Kulturredakteur der taz
Es muss Schluss sein mit den Achtzigern, auch wenn wir jetzt die passende Regierung dazu haben. Bitte jetzt das Neunziger-Revival auf breiter Front. Dann wird ein besseres politisches Projekt folgen. Hat schon mal geklappt!
Ulrich Rüdenauer ist freier taz-Autor
Ein Alptraum: Silbermond komponieren den offiziellen WM-Song und singen ihn zusammen mit Jogi, Westerwelle und zu Guttenberg nach bestandenem Auslandseinsatz der Nationalmannschaft vor dem Brandenburger Tor
Arno Frank leitet das Ressort taz zwei
Michael Jackson arbeitet auf einer entlegenen Antillen-Insel an einem würdigen Nachfolger für „Thriller“. Und die Flaming Lips veröffentlichen endlich ihre Geheimversion der Pink-Floyd-Platte „Dark Side Of The Moon“
Kirsten Riesselmann ist taz-Autorin
Neue Grippen als Vorwand für die politische Kontrolle der Volksgesundheit, Facebook schluckt mehr als 50 Prozent der Arbeitszeit, die dritte Intifada bricht aus, und die Grethers veröffentlichen das erste Doctorella-Album
Klaus Walter ist freier taz-Autor
Punkt 4 verbessern, Plattformen schaffen bzw. nutzen, den Internetradiosender ByteFM zum Beispiel
Julian Weber ist Musikredakteur der taz
Deephouse wird wieder massenkompatibel, Jamie T holt seine ausgefallene Tournee nach und Facebook richtet Feindschaften ein
Thomas Winkler ist taz-Autor
Michael Jackson, weil nun unweigerlich der ganz üble Teil der Leichenfledderei beginnen wird