: Standort-Shopping
Schriften zu Zeitschriften: Anstatt auf die Gleichheit setzt Europa auf die Ungleichheit der Konkurrenzbedingungen
Was macht eigentlich Europa? Eine freundliche Weltmacht sollte es doch werden: fast so reich und mächtig wie Amerika – und im weltweiten Spiel von Terror und Kapitalismus dabei immer schön uneigennützig auf der Seite des Guten. Vom europäischen Traum wollen auch die Beiträge der aktuellen Zeitschriften nicht ganz lassen, die sich dem Katzenjammer nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum widmen. Dabei zeigt sich, dass der allseits bekannte Angstbegriff der „Globalisierung“ zumindest aus der Perspektive dieses Kontinents womöglich besser mit dem Elitenprojekt der „Europäisierung“ umschrieben werden könnte.
So erkennt der Flensburger Soziologe Hauke Brunckhorst in der Münchner Philosophie-Zeitschrift Widerspruch (43/2005) die eigentliche Verfassungskrise der EU in einer demokratiewidrigen Alleinherrschaft der Regierung über das Parlament, in einem Vorrang des „Rule of Law“ über die Demokratie: „Die Europäischen Verträge sind eine Verfassung für die politische Klasse, die sich im Verbund mit den Mächten der Wirtschaft und der Massenmedien zu einer neuen und hoch flexiblen, herrschenden Klasse vernetzt hat.“ Dieser Verfassung fehle ein „allgemein gesetzgebender Wille“ der europäischen Bürger. Parlamentarische Demokratie und legitimierendes Volk würden in der heimischen Provinz zurückbleiben, „während die Regierungen und Eliten sich auf allen Ebenen des globalen Mehrebenensystems immer dichter und effektiver vernetzen“. Ein weltweiter Trend, der in der Europäischen Union allerdings „besonders effektiv organisiert“ sei. Schwuppdiwupp habe so etwa der scheidende deutsche Innenminister auf Brüsseler Ebene die europäische Richtlinie zur Einführung biometrischer Reisepässe durchdrücken können. Daran sei die deutsche Politik nun ohne weitere Diskussionen gebunden.
Brunckhorst zufolge hätten Niederländer und Franzosen in der Ablehnung der Verfassung erstmalig als europäisches Volk gehandelt und dabei völlig zu Recht „den Zustand der öffentlichen Autonomie in der Union und ihres in dieser Hinsicht kläglichen Verfassungsentwurfes für ungenügend erklärt“. Demokratische Politik könne nur bedeuten, „dass die Bürger kommunikative Macht ausüben, einen gemeinsamen Willen in einer für alle wahrnehmbaren und nicht nur für Experten und Sabine-Christiansen-Runden zugänglichen, öffentlichen Deliberation bilden können und regelmäßig über politische Alternativen zu entscheiden haben“. Die derzeitige Krise möchte Brunckhorst daher als Chance begriffen wissen, die Parlamentarisierung der EU voranzutreiben.
Die in Zürich unter dem gleichen Titel Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik erscheinende Zeitschrift widmet sich in ihrer 48. Ausgabe den sozialen Folgen der „Europäisierung“. Hier kritisiert der Amsterdamer Politologe Michael R. Krätke, dass mit der europäischen Lissabon-Strategie unter vorgetäuschtem Globalisierungsdruck eine bloß innereuropäische Standortkonkurrenz mit Sozialdumping inszeniert werde: „Statt des altehrwürdigen liberalen Ziels, eine annähernde Gleichheit der Konkurrenzbedingungen in der Großregion EU-Europa herbeizuführen, setzt die offizielle europäische Politik nunmehr auf die Ungleichheit der Konkurrenzbedingungen, die dem mobilen Kapital das unschlagbare Droh- und Druckmittel des Standort- oder sogar des Regime-Shopping zwischen den Mitgliedstaaten der Union an die Hand gibt.“ Immerhin sei die EU zu 90 Prozent eine Binnenwirtschaft. Daher gebe es durchaus politischen Spielraum, sich auf gemeinsame soziale Regeln zu verständigen. Denn, so Krätke: „Ohne wirkliche Harmonisierung der Sozialsysteme, einschließlich der Bildungs- und Gesundheitssysteme, wird es keinen europäischen Arbeitsmarkt geben.“
In der Zeitschrift Lettre international beklagt der New Yorker Europawissenschaftler Tony Judt die außenpolitischen Folgen des Referendums. Als „entschlossener internationaler politischer Akteur“ sei die EU nun wahrscheinlich für viele Jahre ausgeschaltet. Nur die USA seien jetzt in der Lage, die schweren humanitären Aufgaben der Welt zu schultern. Doch Judt macht sich Sorgen: „Wenn Amerika seine Glaubwürdigkeit als die Macht des Guten verliert, wird die Welt nicht zur Ruhe kommen.“
Zurzeit zahle sein Land allerdings einen hohen innenpolitischen Preis: „Langfristig kann sich kein Land jenseits seiner Grenzen imperial – also brutal, verächtlich und widerrechtlich verhalten und gleichzeitig daheim die republikanischen Werte hochhalten.“ Aber ist es denn nur dummer Zufall, dass die potenziell friedensstiftende amerikanische Militärmaschine in die Hände der falschen Leute geraten ist? Für das Selbstverständnis einer „Macht des Guten“ sollte es doch eigentlich zwingend sein, in dieser unüberschaubaren Welt immer wieder auf eine Achse des Bösen zu treffen. So liegt der tröstliche Umkehrschluss nahe, dass sich das europäische Zivilisationsversprechen manchmal eben auch im unkontrollierten Scheitern seiner großen Pläne einlöst. JAN-HENDRIK WULF
Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 43/2005, 8 Euro; Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik 48/2005, 16 Euro; Lettre international 70/2005, 9,80 Euro