Im Hüttendorf am Frankfurter Flughafen: Das Startbahnspiel

Dreißig Jahre nach der heftig umkämpften Startbahn West tobt erneut ein Konflikt um den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Manches ist wie früher - manches ist ganz anders.

Für die Besetzung dieser Fällmaschine wurden die Aktivistinnen später verhaftet und erhielten Platzverweis. Bild: dpa

Das "Startbahnspiel" ging so: Ein Teil der Klasse rief "Für!", der andere "Gegen!" Dann stürmten alle unter Gejohle in eine Ecke des Klassenraums, schmissen sich mit Wucht aufeinander und an die Wände. Die gaben etwas nach, weil dieser Klassenraum der 6a einer Schule in Großkrotzenburg bei Hanau in einem Barackentrakt lag. So spielten, verarbeiteten und ironisierten Zwölfjährige Ende der Siebzigerjahre das, was im Fernsehen fast täglich zu sehen war: die Schlachten zwischen der Polizei und den Demonstranten an der Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Für die Sechstklässler war es Spiel, für die Dortigen blutiger Ernst. Am Ende gab es zwei Tote.

Der Frankfurter Flughafen soll um eine neue Landebahn mit einer Länge von 2.800 Metern erweitert werden. Dafür müssen 250 Hektar Wald bei Kelsterbach gerodet werden, das entspricht etwa 350 Fußballfeldern. Auch bei Walldorf sollen bis Ende Februar 60 Hektar Wald fallen. Das Kelsterbacher Gelände ist eingezäunt, die Rodungen haben bereits begonnen. Am 9. Februar wird sich die Stadtverordnetenversammlung Kelsterbachs mit dem Verkauf des Areals an die Betreibergesellschaft des Flughafens, Fraport, befassen. Ein "Eckpunktepapier" des Bürgermeister Manfred Ockel (SPD) mit Fraport gibt es dazu bereits. Gegen den Flughafenausbau gibt es Einwände von über 120.000 Privatpersonen. Ab Juni wird sich der hessische Verwaltungsgerichtshof mit den Klagen gegen den Ausbau befassen. Seit Mai 2008 ist ein Teil des Waldes bei Kelsterbach von Umweltschützern besetzt. Am Wochenende demonstrierten laut Robin Wood etwa 500 Menschen für den Erhalt des Waldes. GES

Das Startbahnspiel des Jahres 2009 geht so: Die französische Aktivistin Cécile, seit ihren Auftritten beim Castor-Transport 2008 aus Funk und Fernsehen bekannt, organisiert eine Gruppe von neun Engagierten: "Okay, hat jeder seinen Bödy?", fragt sie mit französischem Zungenschlag ihre Gefährten im Besetzercamp. Das Hüttendorf liegt in einem Waldstück, das wegen einer neuen Startbahn des Frankfurter Flughafens gerodet werden soll.

Bei strömendem Regen zupfen die jungen Leute ihre Kleidung zurecht und nicken Cécile zu. Dann, ganz plötzlich, laufen sie mit einem französischen Kamerateam und zwei Fotografen zur Absperrung rund um das Dorf, klettern behände hinüber und stürmen an Wachschützern vorbei in Richtung einer Rodungsfläche, die etwa 300 Meter entfernt, irgendwo da drüben, liegen soll. Sie wollen dort eine "Aktion" machen, heißt es.

Es ist spannend und angenehm bei den drei Dutzend Aktivisten, die seit Mai 2008 hier in einem Mischwald in der Nähe des riesigen Flughafens leben, bei 30 Grad Hitze und bei 15 Grad minus. Und es macht Spaß. Jedoch erst, wenn man die Polizeisperre vor dem Camp hinter sich gelassen hat. Die Personal- und Presseausweise von Journalisten überprüft die Polizei intensiv, Taschen ebenfalls - auf der Suche nach Benzin, wie ein Beamter sagt. "Damit wir das nicht um die Ohren kriegen."

Dann ist der Zugang frei, durch den Matsch und über tote Äste am Boden geht es zum Camp. Zwei Aktivisten kommen einem entgegen. Es ist "die Wache" der Baumfreunde. Der 28-jährige "Captain Chamäleon", einer von fünf Clowns im Hüttendorf, fuchtelt zum Empfang mit einem langen Holzast vor den Füßen herum. Seine Kollegin Barbara, auf dem Kopf einen Hut Marke Räuber Hotzenplotz, weist freundlich den Weg zur Versammlungshütte. Das stabilste Gebäude im Dorf, massiv gezimmert aus Holz, ist eine Spende eines Bündnisses von Bürgerinitiativen, die den Flughafenausbau bekämpfen und die Bewohnerinnen und Bewohner des Camps mit dem Nötigsten versorgen. Um die Hütte herum eine lose Ansammlung von vielleicht 30 Campingzelten, Sperrmüllhütten und eindrucksvollen Baumhäusern aus Holz oder Lehm unter den Kronen meist astloser Kiefern.

Manche Hütten sind nur mit Kletterausrüstung erreichbar. Dazwischen, in schwindelnder Höhe, hängen Traversen, also Seilbrücken zwischen einigen Baumhäusern. Zwischen den Bäumen ein paar Transparente: "Fight Capitalism - another world is possible" steht auf einem, auf einem anderen: "Du hast es geschafft, deshalb werden sie uns nicht schaffen." Häufig stören startende Flugzeuge die Stille. Es riecht nach Harz und Laub. Im Braun und Schwarz des Waldes leuchten an einigen Stämmen indianisch anmutende Ornamente in knalligen Neonfarben. Im Sommer mag das alles eine Idylle sein, in der Nässe und Kälte des Winters ist es hart.

Immerhin, in der runden Versammlungshütte ist es warm dank eines kleines Ofens in der Mitte. Auch trocken ist es, einigermaßen. Im Halbdunkel ist ein fast gemütliches Chaos an Rucksäcken, Matratzen und Schlafsäcken auszumachen. Das Outfit der Ökobewegten hat sich im Vergleich zu den frühen Startbahnzeiten vor 30 Jahren erstaunlicherweise kaum verändert: etwas weniger Bärte, mehr verfilzte Haare, weniger Schlabberpullis, mehr Piercings. Sehr friedlich, ja zart ist die Atmosphäre. Auf einer Matratze bekommt ein sportlicher Blonder eine lange Rückenmassage.

Gerade hat ein etwa 50-jähriger Altaktivist am Ofen mit dem ruhigen Pathos eines Indianerhäuptlings die Auflagen für eine Demonstration erklärt. "Das ist ne Frage, wie viele Leute sich mobilisieren lassen - ich bin da eher skeptisch", sagt er. Und zu der erwartenden Polizeipräsenz: "Das werden wir sehen, wie das Kräfteverhältnis ist." Welche "Aktionen" noch geplant seien, will er nicht sagen. Alles ist basisdemokratisch organisiert, die Umweltorganisation Robin Wood steuert etwas Hilfe bei.

Christian und Nadja hören dem Startbahnveteranen brav zu. Sie sind, wie die meisten Hüttendörfler, etwa halb so alt wie er. Der 20-jährige Christian könnte als jüngerer Bruder Daniel Brühls durchgehen, ihn schmückt eine natürliche Coolness. Sehr sanft, fast zerbrechlich wirkt die 25-jährige Nadja. Seit Anfang und Ende Juni sind die beiden im Camp. Informationen der linken Internet-Plattform Indymedia und Tipps von Bekannten haben sie angelockt. Vertraut wirken die beiden. Monatelanges "gemeinsames Wohnen auf einer Fläche von 2 mal 1 Meter", wie Christian ihre Baumhaus-WG umschreibt, "das schweißt einen zusammen".

Christian wollte eigentlich nur kurz bleiben. Aber die "freie Lebensweise" hielt ihn hier, ebenso die Menschen und "das Ökosystem", also der Wald und der nahe See. "Weil ich denke, dass dies alles zu schützen ist, bleibe ich bis zur letzten Konsequenz." Nadja sagt: Da "wirtschaftliche Aspekte die ökologischen und sozialen" immer mehr dominierten, gehe es "den Menschen und der Umwelt immer schlechter". Ein Ausdruck: der Flughafenausbau. Deshalb sei sie hier. Außerdem sei ihr das Dorf ans Herz gewachsen. "Hier sind die Menschen und das Camp, wo ich leben will", sagt sie mit einem tiefen Ernst.

Christians Stiefvater war schon bei der Startbahn West dabei. Er überließ ihm seine ganze Ausrüstung von damals - samt der Aufforderung: "Geh in den Wald, da lernst du was fürs Leben."

Der "Aktions"-Trupp ist immer noch nicht zurück. Michael, der eigentlich anders heißt, hilft, sie zu suchen. Es geht an dem langen, langen Stahlzaun entlang, der das 250 Hektar große Gelände absperrt. Der 48-Jährige war schon vor 30 Jahren ein Gegner der Startbahn und hat selbst eine Weile im damaligen Hüttendorf gelebt. Größer war es, fester gebaut, es hatte mehr Öfen und konnte über 500 Leute unterbringen, erzählt er. Die heutigen Aktionen seien dagegen "deutlich besser organisiert". Die Polizei habe seinerzeit versucht, die Anti-Startbahn-Bewegung durch Knüppeleinsätze zu radikalisieren, um sie dann leichter spalten zu können. So habe sie "mitverursacht", sagt er, "was dann gekommen ist." Die tödlichen Schüsse auf die Polizisten? "Die Schüsse waren ein Sonderfall", meint Michael, "die sind auch von der Szene abgelehnt worden".

Nach einem längeren Marsch sieht man hinter dem Stahlzaun in einiger Entfernung einen Art Bagger, der gefällte Stämme stapelt. Wachschützer stehen davor. Hier ist kein Durchkommen. Auch von der "Aktion" ist nichts zu sehen. Ein Wachschützer wird etwas hysterisch, ruft, ich sei laut irgendeinem Paragrafen des Strafgesetzbuches verhaftet. Die fast gleichzeitig aufgetauchte Polizei schaut nur kurz auf den Presseausweis und winkt mich weiter.

Im Hüttendorf ist zu erfahren, dass es den Aktivisten um Cécile gelungen sei, auf "Harvester", also Fällmaschinen zu klettern. Dafür wurden die Baumfreunde und Presseleute vorläufig festgenommen - alle 13 dürfen erst einmal nicht ins Camp zurück. Wenn es zur Räumung kommt, werde man versuchen, noch auf die Bäume zu klettern und dort möglichst lange auszuharren, erzählen Nadja und Christian. "Konsens ist: keine Gewalt gegen Menschen und Tiere."

Die Aktivisten brauchen starke Nerven. Da ist die permanente Überwachung. Zusätzlich nervt, dass der Zaun nachts nun mit Flutlicht beleuchtet wird und die Generatoren den Schlaf stören. Neulich führte das zu einer spontanen Tiergeräuschdemo, bei der auch am Zaun gerüttelt wurde. "Wenn man uns behandelt wie Tiere im Zoo", erklärt Christian, "verhalten wir uns auch so."

Ein kleiner Ausbruchversuch ist auch an diesem Tag zu beobachten. Es wird gerade dunkel, als fünf Badefreunde, barfuß und bedeckt nur mit Badehosen und Handtücher, an den Polizisten vorbei zum See laufen wollen, um dort zu baden.

Es ist sehr kalt geworden, ihre Füße sind bis zu den Knöcheln mit Matsch beschmutzt. Ein bulliger "Communicator" der Polizei telefoniert mit seiner Zentrale, ob der Badespaß im noch halb zugefrorenen See erlaubt wird. Nach zehn Minuten in der Kälte die Antwort: nein. "Baden verboten für uns! Die Drecksäcke!", ruft einer. "Ihr seid die Drecksäcke", entgegnet ihm lachend der Fotograf der Camper mit Blick auf die Füße der Badewilligen. Diese "Aktion" lief schief. Dennoch kehren die Badefreunde fröhlich ins Camp zurück.

Das Startbahnspiel 2009 bleibt ein Spaß, ein friedlicher und ernster. Vielleicht ist das, im Vergleich zum Startbahnspiel vor 30 Jahren, seine Stärke. Doch am Ende wird es auch hier Tränen geben. Und einen Wald weniger.

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