Ausbrecher-Film "Ne me libérez pas": "Ich geh noch ein bisschen weiter"

Ein Gespräch mit Michel Vaujour, der als Ausbrecherkönig Frankreichs gilt, und Regisseurin Fabienne Godet. Sie hat Vaujours Lebenswillen den Film "Ne me libérez pas, je men charge" gewidmet.

taz: Herr Vaujour, Sie haben 27 Jahre im Gefängnis verbracht, davon 17 Jahre in Einzelhaft - ohne verrückt zu werden. Wie geht so etwas?

Michel Vaujour: Ich hatte ja nicht die wirklich die Wahl. Die Frage war nur: Entweder ich sterbe jetzt oder ich geh noch ein bisschen weiter. Ich hab mich fürs Weitergehen entschieden. In der Einsamkeit entdeckt man Kräfte in sich, von denen man keine Ahnung hatte. Am Anfang, puh, ich konnte mir diesen Weg nicht vorstellen. Aber dann, nach und nach, Stückchen für Stückchen formt man sich. Das ist wie beim Laufen. Am Anfang schafft man kaum 500 Meter, aber dann jeden Tag ein bisschen mehr. Man übt und übt, nutzt jeden Moment, jeden.

Das heißt, es wurde mit den Jahren leichter zu überleben?

Vaujour: Nicht leichter, aber ich wurde stärker.

Und jetzt führen Sie ein normales Leben?

Vaujour: Ja. Mit einer enormen Fähigkeit, mich darüber zu freuen. Für mich ist ja alles neu.

Wie verbringen Sie Ihre Tage?

Vaujour: Mit Freude (lacht). Ich gehe jeden Tag zwei Stunden mit meinem Hund spazieren. Das ist ein großer Hund, der viel Bewegung braucht. Ich wohne mit meiner Frau zusammen, ich schreibe.

Leben Sie immer noch in Ihrem Heimatdorf in der Marne?

Vaujour: Nein, als ich 2003 aus dem Gefängnis kam, hatte ich große Geldprobleme und musste vorübergehend zu meiner Mutter ziehen und Jamila, meine Frau, zu ihren Eltern. Wir mussten uns trennen. Was mich sehr wütend gemacht hat. Immerhin haben wir 15 Jahre darauf gewartet, zusammenleben zu können. Aber gut, es war eine weitere Übung und hat mich letztlich meiner selbst versichert. Heute wohnen wir bei Paris in einer kleineren Wohnung. Das ist nicht ideal, weil ich ja eher ein Naturmensch bin. Aber es ist o. k. Wir haben das Problem gelöst - auf ehrliche Weise (lacht).

Frau Godet, wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Herrn Vaujour? War es schwierig, ihn für das Filmprojekt zu gewinnen?

Fabienne Godet: Nein. Wir haben uns bei einem gemeinsamen Bekannten kennen gelernt. Da wusste ich gar nicht, dass ich jemanden vor mir habe, der im Gefängnis gewesen ist. Auch später kam mir diese Geschichte sehr abstrakt vor.

Vaujour: Mir auch. Ich habe ja viele Angebote bekommen, einen Dokumentarfilm zu machen. Aber bis auf Fabienne wollten mich alle einsperren - mich auf den Banditen festlegen, auf meine Ausbrüche und was weiß ich noch alles. Ich lass mich aber nicht mehr einsperren, und schon in gar nicht in meine Vergangenheit. Ich lebe nur in der Gegenwart. Das habe ich 20 Jahre lang trainiert. Fabienne war die Einzige, die sich für mich interessiert hat.

Sie hatten nie vor, die Biografie von Herrn Vaujour in einen breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen?

Godet: Nein. Michel ist ja eine sehr medialisierte Person, die Bilder von seiner Flucht mit Hubschrauber liefen überall im Fernsehen. Ich aber wollte die persönliche Seite hinter dem Ausbrecher zeigen. Nicht nur die heroische seiner Flucht, die alle toll fanden. Sondern auch die traurige, dass sein bester Freund ums Leben kam oder Michel angeschossen wurde. Außerdem habe ich gemerkt, dass es Michel Freude macht, auf diesem Weg mit anderen in Kontakt zu kommen.

In dem Film erzählen Sie, dass Sie die Regeln der Gesellschaft nicht akzeptieren konnten. Schon gar nicht die der Justiz. Sind Sie heute immer noch so anarchistisch unterwegs?

Vaujour: Anarchisten gehören ja einer Gruppe ein. Ich bin ein Individuum. Ich beziehe mich auf niemanden, nur auf die Gegenwart, auf mein Herz, mein Geschmack, meine Gesetze.

Ihre ablehnende Haltung gegenüber der Justiz hat sich nicht geändert?

Vaujour: (zögert) Nein. Im Grunde nicht. Die Justiz gibt vor zu heilen. Aber das tut sie nicht. Sie spricht abgehoben von Häftlingen, aber sie behandelt uns wie gefangene Hunde. Nicht wie Menschen. Das Verhalten derer, die das System repräsentieren, hat sie disqualifiziert, hat das System disqualifiziert. Gegen Ende meiner Haft aber, wo klar war, ich komme hier raus und muss nicht mehr um mein Leben kämpfen, da konnte ich bei dem einen oder anderen Wärter sehen, dass auch er in seiner Uniform eingesperrt ist.

Sie beschreiben sich als einen Jungen aus extrem armen Verhältnissen.

Vaujour: Oh ja. Finanziell wie kulturell.

War Ihre Rebellion auch eine Rebellion der Unterprivilegierten gegen die Elite?

Vaujour: Auf jeden Fall. Auch wenn mir das erst später klar wurde. Für Politik habe ich mich nie interessiert. Es ging mir immer nur darum, meine eigenen Probleme zu regeln.

Frau Godet, gerade in schmerzhaften Momenten hält die Kamera häufig frontal auf das Gesicht von Herrn Vaujour. Mir haben diese Szenen auf unangenehme Weise meinen Voyeurismus vor Augen geführt.

Vaujour: Mich kann jeder weinen sehen. Das ist mir total egal.

Godet: Sie empfinden diese intimen Momente als Voyeurismus? Oh, dann haben Sie aber ein Problem mit Nähe.

Tatsächlich?

Godet: Ja. Wissen Sie, ich habe viel mit sterbenden Menschen gearbeitet. Und ich bin ein Mensch der Nähe. Man muss akzeptieren, dass andere weinen. Außerdem zeige ich nicht, wie Michel weint, sondern wie bei ihm Gefühle hochkommen, wie Tränen hochsteigen. Als Filmemacherin möchte ich den Emotionen meines Gegenübers einen offenen Empfang bereiten.

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