Priester sucht Holocaust-Massengräber: "Ich nehme keine Beichten ab"

Der französische katholische Prister Patrick Desbois sucht in der Ukraine und Weißrussland nach unbekannten Holocaust-Massengräbern. Seit sieben Jahren befragt er letzte Zeugen der Massaker.

Desbois mit Helfern vor einem Massengrab in ukrainischen Bogdanivka.

In die Ukraine kam Patrick Desbois auf den Spuren seines Großvaters väterlicherseits. Als Kriegsgefangener bei Rawa-Ruska (in der Nähe von Lwiw/Lemberg) wurde jener Zeuge des Holocaust.

Patrick Desbois gründete die Organisation "Yahad - In Unum" (yahadinunum.org), um Spuren des Massenmordes an den Juden der Ukraine zu suchen.

Etwa eineinhalb Millionen Juden wurden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine nach Beginn

des Russlandfeldzugs 1941 durch Einsatzgruppen, Ordnungs- und Sicherheitspolizei, Wehrmacht und ukrainische Hilfspolizei ermordet. Ukrainische Zivilisten wurden zu Handlangerdiensten verpflichtet.

Desbois fährt mit einer Dolmetscherin, einem Bodyguard und Ballistikexperten, Fotografen und Historikern bis zu zehnmal jährlich in die Ukraine und nach Weißrussland.

Sein Buch über die Reisen in der Ukraine stellte er in der französischen Botschaft in Berlin vor: Patrick Desbois: "Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche". Berlin Verlag 2009, 352 Seiten, 22,90 €.

taz: Herr Desbois, seit sieben Jahren suchen Sie in der Ukraine nach bisher unbekannten Massengräbern aus der Zeit des Holocaust. Warum haben Sie, ein katholischer Priester aus Frankreich, diese Aufgabe übernommen?

Patrick Desbois: Wir müssen erst einmal die Fakten ermitteln. Es gibt tausende von Massengräbern, tausende von Erschießungen, die nicht in den Akten auftauchen. Wir glauben, der Holocaust wäre eine organisierte Tötungsmaschine gewesen und die Deutschen so etwas wie Killerautomaten. Aber das stimmt nicht. In der Ukraine gab es keine Gaskammern, hier wurde der Holocaust durch Gewehrkugeln begangen. Und es ging absolut chaotisch zu. Dörfer und Städte wurden von den Einsatzgruppen oder den Polizeibataillonen als judenfrei nach Berlin gemeldet, obwohl das nicht stimmte. Die verbliebenen Juden hat man erschossen, ihre Ermordung aber nicht vermerkt. Meine Aufgabe ist es, die Stätten dieser nirgends verzeichneten Massenerschießungen zu finden. Und die Zeit läuft uns weg. Wir reden mit Zeitzeugen, aber in sieben, acht Jahren werden sie alle tot sein.

Die Dorfbewohner, mit denen Sie sprechen, waren Augenzeugen der Ermordungen. Oft waren sie sogar dazu verpflichtet worden, bei dem Mordhandwerk zu helfen. Die Geschichten, die Sie in Ihrem Buch wiedergeben, sind schrecklich, zum Teil unerträglich …

… ich verstehe Sie. Aber die wirklich schrecklichen Berichte stehen gar nicht im Buch, sie wären nicht auszuhalten …

wie aber halten Sie es dann aus, immer und immer wieder diese Geschichten zu hören. Wie sich die Erde noch drei Tage lang bewegt hat, weil die deutschen Truppen für jeden Juden nur eine Kugel verwendeten und viele daher lebendig begraben wurden?

Am Anfang konnte ich es nicht ertragen. Ich habe schon nach einer halben Stunde das Interview beendet, die Kamera ausgemacht. Aber dann habe ich mich gefragt: Wovor hast du Angst? Warum hältst du das nicht aus? Mein Großvater war als französischer Kriegsgefangener in einem deutschen Lager in der Ukraine. Er musste mit ansehen, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben. Wenn ich die Wahrheit herausfinden will, darf ich keine Angst haben, muss alles ertragen. Wer mit mir arbeitet, muss Liebe für die Toten empfinden, Respekt für die Lebenden, aber er muss auch den Horror ertragen können.

Wie finden Sie Ihre Gesprächspartner?

Wir fahren in die Dörfer, meine Dolmetscherin fragt alte Menschen, die wir auf der Straße sehen: Haben Sie während des Krieges hier gelebt? Haben Sie etwas gesehen? Dann schauen wir, wer bereit ist zu reden. Die Dörfer, in die wir fahren, sind meistens sehr isoliert, es führt keine asphaltierte Straße dorthin, es gibt kein fließendes Wasser, manchmal kein Fernsehen. Die Zeit ist stehen geblieben, die Vergangenheit nicht vergangen. Manchmal hören die Leute mitten im Gespräch auf und sagen: Ich darf nicht mit Ihnen reden. Dann haben sie Angst davor, nach Sibirien deportiert zu werden, oder sogar davor, dass die Deutschen zurückkommen. Es sind oft sehr alte Leute.

Erzählt man Ihnen bereitwillig alles?

Es hilft, dass ich ein Priester aus dem Westen bin. Ich richte nicht, ich frage nicht, wer sich schuldig gemacht hat. Ich nehme keine Beichten ab, ich protokolliere Zeugenaussagen. Ich arbeite wie ein Kriminalist. Nicht jeder redet. Wenn der Großvater oder der Vater selber geschossen hat, spricht die Familie nicht mit uns. Da kommen wir nicht einmal bis zur Tür. Ich bin immer mit Bodyguard unterwegs, weil die Stimmung in so einem Dorf schnell umschlagen kann. Auf mich wurde auch schon geschossen.

Wie ist es für Ihre Gesprächspartner, sich nach so langer Zeit erinnern zu müssen?

Meist geben sie dir erst einmal nur einen kleinen Hinweis, einen Satz wie: "Es ist schwer, auf Leichen zu laufen." Das hat eine Frau zu mir gesagt. Sie musste mit den anderen jungen Frauen aus dem Dorf zwischen den Erschießungen ins Massengrab steigen und auf den Leichen herumtrampeln, damit mehr hineinpassen. Barfuß. Eine andere Frau nahm meine Hand und sagte: "Es ist schwer, Hände zu verbrennen, wenn sie sich bewegen." Eine halbe Stunde hielt sie meine Hand. Sie erzählt mir schließlich, wie sie die Leichen verbrennen musste.

Diese ukrainischen Dienstverpflichteten tauchen in den Akten nicht auf.

Natürlich nicht, denn offiziell mussten die Erschießungen geheim gehalten werden. Aber sie fanden in aller Öffentlichkeit statt, am Rand der Dörfer, auf dem Marktplatz, im Wald. Und es wurden immer Zivilisten herangezogen, um die Gräber auszuheben, die Kleider zu sortieren, das Essen zu kochen, manchmal auch, um die Gefangenen zu bewachen. Die Deutschen gingen zum Bürgermeister und forderten die Leute an. Statt einer Bezahlung bekamen sie die abgelegte Kleidung, aber nur die schlechten Sachen. Die guten nahmen die Deutschen mit.

Und nichts davon wurde an die Vorgesetzten gemeldet?

Es war weit weg von Berlin. Es gab vieles, was in den Akten nicht auftaucht. Wir hören immer wieder, dass die Gestapo jüdische Frauen beschäftigte. Zur Zwangsarbeiter, aber auch als Sexsklavinnen. In der kleinen Stadt Busk im Distrikt Lemberg hielten sie sich 24 junge Frauen, die alle schwanger waren, als die Front näher kam. Die Gestapo ließ ein Kommando aus einer anderen Stadt holen, um sie umzubringen. Auf einem Lastwagen fuhren sie durch die Stadt. Sie nahmen Abschied. Jeder in Busk kannte diese Frauen, jedem war klar, dass sie jetzt erschossen werden würden.

Wenn die Dorfbewohner seit dem Krieg das erste Mal über die Grausamkeiten reden, wie verändert das ihren Umgang mit dem Holocaust?

Das ist eine sehr westliche Frage. In Osteuropa sind wir weit davon entfernt. Man spricht nicht über den Holocaust. Wir sind ganz am Anfang. Wir müssen die Fakten ermitteln, wir haben keine Zeit mehr. Wir haben nun zwei Teams und acht Vollzeitkräfte in Paris. Wir fahren fünfmal pro Jahr in die Ukraine, seit 2008 auch fünfmal jährlich nach Weißrussland. Ich habe 880 Interviews geführt bis jetzt. Ein Interview dauert so lange, bis die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Bis wir wissen, von wo der Lastwagen kam, welche Farbe die Uniform hatte.

Wie merken Sie, wenn Sie belogen werden?

Erst wenn drei Personen unabhängig voneinander einen Fakt bestätigen, nehmen wir diese Aussage auf. Wir lassen uns zu den Gräbern führen, dort fallen den Zeitzeugen oft noch viele Details ein. Oder wir interviewen sie auf der Straße, dann kommen andere hinzu und korrigieren manchmal die Aussagen.

Sie waren noch vor drei Wochen in der Ukraine. Bei Ihrer Rückkehr hörten Sie, dass Bischof Richard Williamson den Holocaust leugnet. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Ich war schockiert. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Ultrarechte und Neonazis den Holocaust leugnen. Aber jemanden zu hören, der den Holocaust leugnet und sagt, er sei ein katholischer Bischof, hat mich tief getroffen. Ich befürchte, dass die Leugner zunehmen, wenn die letzten Zeugen gestorben sind.

Wäre es eine Wiedergutmachung, wenn der Papst jetzt nach Israel reisen würde?

Vielleicht. Aber in der jetzigen innenpolitischen Situation in Israel ist es schwierig. Als Johannes Paul II. nach Israel reiste, hat das viel gebracht für die katholisch-jüdischen Beziehungen. Jetzt ist die jüdische Gemeinschaft sehr verletzt wegen Williamson, es war für sie unvorstellbar, dass so etwas geschehen konnte. Ich versuche immer, zu erklären, dass er kein Bischof ist, all die Details. Aber die Affäre hat einfach sehr viel zerstört.

Einer der bewegendsten Sätze in Ihrem Buch ist vergleichsweise harmlos. Aber er lässt erahnen, mit welchen Erinnerungen die Menschen in den Dörfern leben. Eine alte Frau sagt zu Ihnen: "Ich weiß nicht, warum sie die Juden ausgerechnet unter meinem Fenster erschossen haben."

Sie war sehr alt und sehr krank. Sie lag auf ihrem Bett, schaute aus dem Fenster, von dem aus man direkt auf das Massengrab blickte. Und dann sagte sie diesen Satz.

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