: Beskapas verlorener Sohn
ERMITTLUNGEN Ein Mann aus Tadschikistan verschwindet. Seine Familie sucht ihn vergeblich. Jahre später taucht er wieder auf. Auf einem Video deutscher Staatsanwälte, die Terroristen nachspüren. Was ist geschehen?
■ Das Folterverbot: Deutschland ist der UN-Konvention zur Verhütung von Folter beigetreten. Sie untersagt die Verwendung von durch Folter erlangten Erkenntnissen in Justizverfahren. Zudem verpflichten sich die Unterzeichner zum Kampf gegen Folter. Menschenrechtsgruppen folgern daraus, dass deutsche Ermittler Gefangene in Folterstaaten nicht befragen dürfen. Scherali Asisows Fall zeigt: Es geschieht doch.
■ Das sagt Amnesty: „Solche Befragungen dürfen nicht stattfinden“, sagt Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, der sonntaz. „Die Bundesanwaltschaft unterwandert damit das absolute Folterverbot. Es kann nicht sein, dass die deutsche Justiz von der Folter in anderen Staaten profitiert. Mit der Befragung in Usbekistan haben deutsche Ermittler wieder die rote Linie überschritten.“
AUS BESKAPA MARCUS BENSMANN
Die schwarze Anstaltskleidung wirft Falten um den mageren Körper des Häftlings. Der Schädel ist kahl geschoren, die Wangen wirken eingefallen. Die Befragung beginnt. Beim Zuhören presst der Mann die Lippen aufeinander, er knetet die Finger. Die Gesichtszüge bleiben starr, nur die braunen Augen wandern vom fragenden Deutschen zum Übersetzer und zurück. Der Häftling antwortet knapp, selten öffnet er die Hand zu einer Geste. Nach einigen Fragen atmet er tief ein und lässt den Blick kurz zur Decke gehen, als müsse er sich an etwas erinnern. Es wirkt fast so, als wolle sich der Mann so unscheinbar wie möglich machen – dabei ist er die Hauptperson hier.
Die Szene ist auf einem Video festgehalten. Sie spielt in einem Zimmer, dessen Einrichtung von Ikea sein könnte, auf dem Schrank in der Ecke schimmert ein Teeservice. Aber das hier hat nichts Alltägliches. Der Raum liegt in einem Gefängnis in Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan. Und dieses Video vom 30. September 2008 dokumentiert einen Sündenfall, denn die zwei Deutschen, die hier die Fragen stellen, arbeiten für die Bundesanwaltschaft.
Die Deutsche Justiz befragt einen Mann in Usbekistan, ein Rechtsstaat sucht Hilfe in einem Folterstaat.
Der Häftling, in den deutschen Protokollen „der Zeuge“ genannt, heißt Scherali Asisow. Die Usbeken werfen ihm vor, ein Terrorist zu sein. Er soll im Sommer 2006 einen Anschlag auf den Militärstützpunkt im usbekischen Termes versucht haben, den die Bundeswehr für den Krieg in Afghanistan nutzt. Aber nicht deswegen reisten die deutschen Ermittler nach Taschkent. Die Bundeswehr weiß nach eigenen Angaben auch drei Jahre später nichts von einem Attentatsversuch. Die deutschen Behörden interessierten sich aus einem anderen Grund für Asisow: Sie wollten ihn zu jenen vier Männern befragen, die 2007 in Deutschland Anschläge planten und dann im Sauerland verhaftet wurden. So befragte im Juni 2008 ein Hauptkommissar des Bundeskriminalamts den Gefangenen in Taschkent. Und im September reisten zwei weitere BKA-Beamte und ein Ermittler der Bundesanwaltschaft zu einer ausführlichen Befragung an.
Auf dem Video sagt Scherali Asisow aus, zwei der Angeklagten im Sauerland-Prozess zu kennen: aus einem Ausbildungslager für Terroristen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Er spricht über die Islamische Dschihad-Union. Die zwei Deutschen, ein Mann und eine Frau in Anzügen, stellen ihre Fragen höflich.
Usbekistan ist ein Unrechtsstaat, in dem systematisch gefoltert wird. Menschenrechtsgruppen gehen davon aus, dass mehrere tausend Usbeken aus politischen oder religiösen Gründen gefangen gehalten werden. Das US-Außenministerium schreibt im aktuellen Länderreport, dass bei Polizei und Geheimdienst des Landes Folter Routine ist.
Die Befragung hat „keine Hinweise auf eine Beeinflussung des Zeugen durch psychische oder physische Zwangsmittel gegeben“, rechtfertigt die Bundesanwaltschaft das Vorgehen. In der Tat, auf dem Video wird Scherali Asisow nicht vor den Augen der deutschen Gäste malträtiert. Lediglich ein usbekischer Beamter mischt sich hin und wieder ein, und erklärt dem Inhaftierten über die reine Übersetzung hinaus die Fragen der Deutschen.
Aber gibt es wirkliche keine Hinweise auf Folter? Im Protokoll des BKA heißt es, der Zeuge sei zusammen mit einem zweiten Usbeken verhaftet worden, der jedoch in der Haft nach einem Unfall starb. Die deutschen Juristen sollten wissen, dass Unfalltod im usbekischen Gefängnis eine Chiffre für Tod durch Folter ist. Im BKA-Protokoll der ersten Befragung steht, dass Scherali Asisow bei seiner Festnahme verwundet wurde. Aber bei der zweiten Vernehmung erklärte er, weder bei der Verhaftung noch danach verletzt worden zu sein.
Es gibt viele Fragen um Scherali Asisow und die Dienstreise der Bundesanwaltschaft in ein Foltergefängnis. Haben ihn die Usbeken zu Geständnissen gezwungen? Ist er wirklich Terrorist? Wer ist er überhaupt?
Inzwischen hat der Sauerland-Prozess begonnen. Vor dem Gericht in Düsseldorf wäre es sicher zu einer Auseinandersetzung über den Zeugen Scherali Asisow und die Verwertbarkeit seiner Aussagen gekommen. Aber das war nicht nötig: Alle vier Angeklagten haben überraschend gestanden, und so brauchte die Bundesanwaltschaft den Zeugen Scherali Asisow nicht mehr. Sollte man ihn deshalb vergessen – als Randfigur weit weg in Usbekistan? Das wäre falsch, denn er steht für einen Tabubruch im deutschen Justizwesen. Man kann seinen Fall nicht aufklären. Aber man kann versuchen, diesem Mann ein Gesicht zu geben.
Scherali Asisow wurde in dem Dorf Beskapa in Tadschikistan geboren. Dort kann man nach ihm forschen, denn das Land ist freier als der Nachbarstaat Usbekistan, wo das Regime den unabhängigen Journalismus verboten hat. Beskapa liegt in der tadschikischen Provinz Jawan, sechzig Kilometer südöstlich der Hauptstadt Duschanbe. Die erdigen Ausläufer des Vorpamirgebirges umschließen das fruchtbare Tal. Weiß getupfte Baumwollfelder überziehen die Ebene, am Eingang des Tals steht eine Chemiefabrik aus der Sowjetzeit. Die Anlagen sind verrostet, einige Aufbauten umgestürzt, zwei Schlote rauchen noch. Ein Melonenverkäufer an der Straße weist den Weg nach Beskapa.
Tee und Walnüsse
Entlang einer staubigen Straße grenzen Mauern aus Lehmziegeln die Gehöfte ab. Ein aus den Angeln gehobenes Metalltor steht vor dem Haus der Asisows. Die Umfriedung umgrenzt zwei Gebäude, einen Garten mit Maulbeer- und Walnussbäumen. Unter Weinblättern steht ein Tapschan, so wird in Tadschikistan ein Hochbett genannt, auf dem die Gäste mit Tee und Walnüssen bewirtet werden.
Erst die journalistische Recherche nach Scherali Asisow brachte die Nachricht über den verlorenen Sohn nach Beskapa. Die usbekischen Behörden haben seine Familie in Tadschikistan weder von der Verhaftung, vom Prozess noch von der Verurteilung Asisows unterrichtet. Er war 2004 in den Iran gereist, um in der Stadt Sahedan den Koran zu studieren. Zwei Jahre später führte sein Vater Chaitali Asisow das letzte Telefongespräch mit ihm. „Scherali hatte seinen Pass verloren“, sagt der Vater, aber die Verbindung sei schlecht gewesen. Und dann abgebrochen.
Der 71 Jahre alte Usbeke ist hager. Er trägt einen weißen Bart, und der blaue Kaftan verschluckt ihn förmlich. Scherali ist der jüngste von vier Söhnen, und wenn man seinen Brüdern glauben darf, der Lieblingssohn. Der Vater hat in der Kolchose von Beskapa als Fahrer gearbeitet, nun ist er Rentner. Die anderen Söhne arbeiten auf den Baumwollfeldern. Die Mutter, Rosigul, spricht kaum Russisch. Sie schluchzt, wenn im Gespräch der Namen des Sohnes fällt.
Scherali Asisows Leben beginnt in Beskapa. Am 24. November 1975 wurde er geboren. Im Dorf spielte er mit den Nachbarjungen Fußball und kletterte auf den Walnussbaum im Garten. In der Schule fiel er als wissbegierig auf. Er interessierte sich für alles. Für Sprachen, Mathematik und Biologie. Der Deutschlehrer kam extra zum Elternhaus, um ihm Zusatzunterricht zu geben. Zweimal nahm Scherali an einer Wissensolympiade in Deutsch teil und belegte den dritten Platz, wie sich der Direktor der Schule erinnert. Der Biolehrer besuchte die Eltern und sagte ihnen, dass Scherali auf jeden Fall studieren sollte. Er war auch als Kind nicht groß, eher drahtig. Scherali sei immer sehr ruhig gewesen, aber wenn er sich etwas zum Ziel gesetzt hatte, dann wollte er es unbedingt, erinnern sich die Schulkameraden.
Nach der Schule wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Er diente an der tadschikisch-afghanischen Grenze in den Ausläufern des Pamirgebirges. 1994 wütete in Tadschikistan noch der Bürgerkrieg. Über die Gebirgsgrenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan, die vom Amu-Darja-Fluss markiert wird, fielen die Mudschaheddin der tadschikischen Opposition nach Tadschikistan ein. Scherali Asisow war im Krieg. In seinem Wehrbuch steht, wie er zum Unteroffizier aufstieg, eine Raketenwerfereinheit befehligte und einen Orden bekam. Als Grenzsoldat muss er das unwegsame Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Tadschikistan am Pamirgebirge genau gekannt haben.
Koran und Kolchose
Ein Kamerad aus dem Nachbardorf erinnert sich, wie strebsam Scherali Asisow beim Militär gewesen sei. Während des Wehrdienstes habe er angefangen, regelmäßig zu beten.
Nach der Militärzeit wollte Scherali Asisow Mullah werden. Eine gute Stunde Autofahrt von Beskapa entfernt liegt die Kolchose Komintern, und in dieser Bauerngemeinschaft lehrte ein Mullah den Koran. Drei Jahre wohnte Scherali Asisow hier, zu Gast bei einem Freund der Familie. „Ich habe selten einen so fleißigen und ernsthaften jungen Mann gesehen“, sagt der Gastgeber. Er habe keine Miete genommen, denn die Familie Asisow sei zwar gut, aber furchtbar arm.
In der Kolchose fanden die Eltern eine Frau für Scherali. Er sollte als jüngster Sohn bei Vater und Mutter in Beskapa wohnen, seine Ehefrau Mansura der Mutter zur Hand gehen, wie es die usbekische Tradition vorsieht. Nach der Hochzeit pendelte er für drei Jahre nach Russland und verdiente auf einer Baustelle Geld. Es gibt ein Foto von einem Fest in Russland. Er sitzt im Kreise anderer tadschikischer Gastarbeiter, die ausgelassen feiern. Eine Wodkaflasche macht die Runde. Scherali sitzt am Rande, sein Blick geht ins Leere.
Scherali Asisow war ein geschickter Handwerker. Das väterliche Haus erweiterte er um ein Gästezimmer, eine mit Stuck verzierte Wand schmückt ein großes Mekkafoto. Im Juni 2003 gebar seine Frau die Tochter Madina. Dann passierte etwas, was sein Leben auf den Kopf stellte.
Bei einem Hochzeitsfest wurde er gebeten, aus dem Koran zu lesen. Er zeigte gern sein Können. Unter den Gästen war auch ein Geistlicher aus Afghanistan. Dieser fragte den örtlichen Imam, wer der junge Mann sei, der so wunderschön den Koran rezitiere. Der Imam aus Beskapa reagierte unwirsch. Das sei ein blöder Bauernsohn, der kaum Arabisch, und nur ein paar Verse aus dem Koran radebrechen könne. Der Imam, der heute noch die Gemeinde in Beskapa leitet, hat seine Meinung nicht geändert. „Scherali konnte weder gut Arabisch noch den Koran. Er hat schlicht einige Suren auswendig gelernt“, sagt er.
Der junge Mann hatte die abschätzigen Worte des Imam gehört. Er war verletzt und beschloss, den Koran im Ausland zu studieren. Den Gelehrten in Tadschikistan traute er nicht mehr. Eines Tages wollte er es den Spöttern zeigen.
CHAITALI ASISOW, DER VATER DES INHAFTIERTEN
Im Februar 2004 flog er in den Iran. Von Teheran wollte Scherali Asisow weiter in den Osten des Landes nach Sahedan. In der Stadt leben vor allem Sunniten, und Tadschikisch ist dem Iranischen sehr ähnlich.
Da Scherali nicht allein nach Sahedan reisen wollte, bat er einen Bekannten aus der Heimat, ihn zu begleiten. Der Mann erzählt heute, dass sie in der ostiranischen Stadt einem Mann namens Bachridin begegneten, der ebenfalls aus Tadschikistan stammte. Sie stellten fest, dass Bachridin mit einem von Scheralis Lehrern aus Beskapa verwandt war. Scherali hatte in Sahedan einen neuen Freund gefunden, sein bisheriger Begleiter aus der Heimat reiste beruhigt zurück nach Tadschikistan.
Von hier aus lässt sich der Weg nur schwer rekonstruieren, den Scherali Asisow gegangen ist. Er soll in Lagern gewesen sein, wo Terroristen geschult werden. Er soll sich auf den Weg nach Usbekistan gemacht haben, um dort den Bundeswehrstützpunkt in Termes anzugreifen.
Aber hat sich das so zugetragen? Die Vorwürfe kommen von den Mächtigen in Usbekistan. Oder es sind Aussagen von ihm selbst, aber man weiß nicht, ob sie unter Folter zustande gekommen sind.
Brief aus dem Gefängnis
Erst im Juli 2009, zwei Monate nach Beginn der journalistischen Recherche, bekam die Familie Asisow einen Brief ihres Sohnes, den er allerdings bereits am 26. Februar 2009 im Gefängnis von Buchara verfasst hatte. Dort sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher, 450 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt Taschkent entfernt.
Der handschriftliche Brief beginnt mit Suren und religiösen Betrachtungen. „Ich bitte um Vergebung, dass wir viele Jahre keinen Kontakt hatten“, schreibt er und dass er sich in der Hand Gottes befinde: „Allah hat mich aus dem Sumpf befreit und auf den Pfad der Erkenntnis gesetzt. Ich bin mit seinem Urteilsspruch zufrieden und sehr glücklich.“ Er erkundigt sich nach der Gesundheit der Familie, bittet seine Frau Manzura um Geduld und hofft, dass es der Tochter gut geht.
Mit dem Brief im Gepäck machte der Vater sich im September 2009 auf, den Sohn im Gefängnis zu besuchen. Keine leichte Aufgabe – er braucht als tadschikischer Staatsbürger ein usbekisches Visum. Die zwei Tage dauernde Reise ins Gefängnis nach Buchara ist teuer, und die Familie in Beskapa ist auch für tadschikische Verhältnisse arm. Zudem konnte der Vater nie sicher sein, ob ihm das Treffen mit seinem Sohn im Gefängnis in Buchara auch gestattet würde.
Erst beim zweiten Anlauf im Oktober war der Vater erfolgreich. Für die Reise hatte er in der Moschee nach dem Freitagsgebet gesammelt. „Babai, mach dir keine Sorgen, wir zeigen dir heute deinen Sohn“, empfingen ihn die usbekischen Gefängniswächter in Buchara, als der Vater das zweite Mal vor dem Tor stand.
Nach Jahren der Suche konnte Chaitali Asisow den Sohn nicht umarmen. Eine Scheibe trennte sie, sie sprachen über eine Telefonleitung, jeder einen Hörer in der Hand. Chaitali Asisow ist zu einem Ort gekommen, wo kein Vater den Sohn wissen möchte. Aber den Sohn überhaupt zu sehen, ihn am Leben zu wissen war für den Vater eine Freude. Der Sohn habe so dürr ausgesehen, aber er sei gesund. „Scherali hat mir gesagt, dass er unschuldig ist“, sagt Chaitali Asisow.
Ist er das? In dem Brief aus dem usbekischen Gefängnis steht folgender Hinweis. „Anfangs bin ich von zu Hause weggefahren mit dem Vorhaben, in einer iranischen Medresse Wissen zu erwerben. Danach bin ich nach Pakistan gefahren, dort war ich zusammen mit islamistischen Gruppen, habe dort gelernt und bin weiter nach Afghanistan gereist.“
Ist das die Wahrheit, oder sind dies in einem usbekischen Gefängnis erzwungene Zeilen?
Die Aussage im Brief deckt sich mit den Aussagen gegenüber den Vertretern von BKA und Bundesanwaltschaft. Er sei erst nach Sahedan im Iran gefahren und von dort 2004 weiter in die Lager von al-Qaida nach Pakistan und dann 2006 in die Ausbildungslager der Islamischen Dschihad-Union gereist.
Nachdem Scherali sich 2006 nicht mehr bei seiner Familie gemeldet hatte, machte sich der Vater auf die Suche. Er traf in Tadschikistan Bachridin, den Begleiter seines Sohnes, den der erst im Iran kennengelernt hatte. Er ist der Letzte, der Scherali Asisow sah, bevor er verschwand und erst im usbekischen Gefängnis wieder auftauchte.
„Bachridin hat mir gesagt, dass er zusammen mit Scherali zwei Jahre in Iran studiert hat“, erinnert sich der Vater. Auch ein Neffe Scheralis hatte Kontakt mit Bachridin, er heißt Beg Nasar und lebt in Moskau. „Ich habe im Frühjahr 2006 Bachridin angerufen, denn ich wusste, dass ich meinen Onkel Scherali über ihn erreichen konnte“, sagt der Neffe. Scherali habe sich dann tatsächlich gemeldet und sie hätten bis in den Oktober 2006 regelmäßig telefoniert. „Scherali hat den Pass verloren“, sagt Beg Nasar, „er wollte, dass seine Frau und Tochter ihm Ersatzpapiere in den Iran bringen.“ Im November 2006 habe er Bachridin das letzte Mal angerufen, aber der habe ihm gesagt, Scherali sei nicht mehr da.
Stimmen die Aussagen des Vaters und des Neffen, kann Scherali Asisow nicht gleichzeitig in Lagern zum Terroristen ausgebildet worden sein, wie es in den Protokollen der deutschen Ermittler steht. Der Neffe aus Moskau bestätigt nach mehrmaligen Nachfragen, bis in den Oktober 2006 mit Scherali Asisow telefoniert zu haben. Zu dieser Zeit war Scherali Asisow nach den Informationen der usbekischen Behörden schon lange verhaftet. Die Familie kann sich natürlich täuschen oder versuchen, den Sohn zu entlasten.
Bachridin ist eine entscheidende Quelle. Er könnte sagen, was Scherali in Sahedan gemacht hat, ihn vielleicht sogar entlasten. Die Suche nach Bachridin ist schwierig. Anders als Scherali Asisow kehrte er nach dem Studium im Iran und Pakistan nach Tadschikistan zurück. Im Sommer 2009 schrieb er sich an dem staatlichen Religionsinstitut in Duschanbe für ein Fernstudium ein. Seit zwei Jahren untersteht das Institut dem Staat. Ein Mitarbeiter erinnert sich, hoch stehende Persönlichkeiten hätten Bachridins Immatrikulation befördert. Aber weder in Bachridins Elternhaus noch am Institut in Duschanbe hat man seine Adresse. Sie versichern, ihm mitzuteilen, dass ein Journalist nachgefragt hat. Schließlich kommt eine E-Mail mit dem Namen „bahrddinmavlavi“. „Mavlavi“ ist ein islamischer Gelehrtentitel. „Ich habe in Sahedan studiert, dort waren über tausend Studenten, und ich bin 2004 von dort nach Pakistan gegangen“, schreibt er. Er bestätigt auch, mit Beg Nasar, Scherali Asisows Neffen in Moskau, telefoniert zu haben. Trotzdem erklärt er: „Ich kenne Scherali nicht.“
Wie können sich Vater und Neffe so irren? Oder hat Bachridin Angst, sich zu erinnern?
Sahedan im Osten des Iran ist ein Nährboden und Durchgangslager für viele radikale Gruppen und Geheimdienste. Ist Scherali in Sahedan in diesen Sog der radikalen Strömungen geraten, die ihn in die Terrorausbildungslager brachten? Der ehrgeizige Musterschüler aus Beskapa? Auch die Angeklagten im Sauerland-Prozess reisten über Sahedan in die Lager im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.
In den Angaben, mit denen die deutschen Ermittler arbeiteten, finden sich allerdings Widersprüche. Im Protokoll der ersten Befragung steht, dass Asisow schon 2003 in den Iran gereist sei. Doch die Behörden in Tadschikistan haben erst am 29. Dezember 2003 seinen Reisepass ausgestellt. Schließlich wurde seine Tochter im Sommer 2003 geboren, sodass er erst 2004 in den Iran ging.
Bei der ersten Befragung wird Scherali als begriffsstutzig beschrieben, der Fragen kaum verstehen und Antworten nicht formulieren kann. Wenige Monate später bei der zweiten Befragung ist er aber in der Lage, detailreich über Sprengvorrichtungen Auskunft zu geben. Vielleicht hat sich Scherali Asisow bei der ersten Befragung dumm gestellt. Aber warum hat er diese Strategie aufgeben, als ihn einige Wochen später wieder deutsche Ermittler befragten?
Scherali und sein verstorbener Gefährte wurden verhaftet, weil der usbekische Geheimdienst wusste, dass sie den Grenzfluss überqueren wollten. Scherali kannte als ehemaliger Grenzsoldat die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan genau. Seit dem tadschikischen Bürgerkrieg sind die schwer zu kontrollierenden Schmuggelpfade von Afghanistan nach Zentralasien im Pamirgebirge bekannt. Über diesen Weg kann man bis heute problemlos in die Nachbarregion eindringen. Warum quert Scherali Asisow mit einem Kilo Sprengstoff die afghanische Grenze im usbekischen Abschnitt, wo beidseits das Wüstenufer kein Versteck bietet, und nicht im Schutz des Gebirges?
Ein anderer Umstand spricht dafür, dass Scherali Asisow wirklich Terrorist war: Ein Anwalt im Sauerland-Prozess sagt, die Angeklagten hätten ihn auf dem Video der Bundesanwaltschaft erkannt, ihn gar auf einem Propagandafoto als Trainer der Islamischen Dschihad-Union identifiziert.
Der Zeuge und der Angeklagte belasten sich gegenseitig. Der Angeklagte im Sauerland-Prozess sagt aber auch, Scherali Asisow habe nicht versucht, in den Ausbildungslagern mit ihnen Deutsch zu sprechen. Dabei hat er als Schüler in Beskapa Deutsch gelernt. Und in einem Lager in Pakistan trifft er auf einmal zwei Deutsche. Wie wahrscheinlich ist es, dass er seine Sprachkenntnisse nicht nutzt? Könnte es sein, dass Angeklagte, die sowieso alles gestehen, bei der Identifizierung von Scherali Asisow auf dem Videoband nicht so genau hinsehen?
Agenten und Banditen
Hätte Scherali Asisow ein faires Verfahren bekommen, wäre es möglich gewesen, viele der Widersprüche und Fragen zu klären. Aber in Usbekistan ist dies undenkbar. So wird der Schuldspruch diesen Mann neunzehn Jahre von den Walnussbäumen in Beskapa fernhalten.
Wurde aus diesem Mann, der Frau und eine Tochter hat, ein Terrorist? Hatte er einen Anschlag vor? Dieser Teil der Geschichte bleibt verborgen. Klar ist nur, dass ein Mann unter die Räder gekommen ist in Zentralasien, wo Despoten, Agenten, Terroristen und Banditen eng und manchmal bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermengt sind. Er sitzt in einem Folterstaat in Zentralasien im Gefängnis. Und der andere Staat, der Rechtsstaat in Europa, der Informationen brauchte, hat ihn benutzt.
■ Marcus Bensmann, 40, ist Zentralasien-Korrespondent der taz