: Fünf Jahre nach der großen Flut
TSUNAMI Weihnachten 2004: Eine riesige Welle verwüstet die Küsten von über einem Dutzend Ländern. 230.000 Menschen sterben
VON RALF LEONHARD
Noch immer stehen Ruinen am Strand von Kallady. Ein Erkertürmchen, das sich tief in den Sand gegraben hat, zeugt davon, dass der Bezirk einst eine bessere Wohngegend war. Kallady liegt auf einem halbinselförmigen Küstenstreifen, der der Stadt Batticaloa an Sri Lankas Ostküste vorgelagert ist. Hier traf die Welle die ungeschützten Häuser mit voller Wucht. An die etwa 150 Todesopfer des Bezirks erinnert ein blau-weiß eingefasstes Denkmal, auf dem ihre Namen eingraviert sind. Von den 320 Familien, die hier lebten, sind nur 90 geblieben. Die anderen zogen weg. Denn wer garantiert, dass in ein paar Jahren nicht ein weiteres Seebeben die Küste verwüstet?
Seit fünf Jahren kann sich jedes Kind unter dem japanischen Terminus Tsunami etwas vorstellen. Mit einer Stärke von 9,1 auf der Richterskala gilt das Seebeben vom 26. Dezember 2004 als das drittstärkste Beben seit dem Beginn wissenschaftlicher Aufzeichnungen. Das entspricht der Energie von 475 Megatonnen des Sprengstoffs TNT. An den Küsten des Indischen Ozeans starben 230.000 Menschen innerhalb weniger Minuten oder erlagen später ihren Verletzungen. Mehr als zwei Drittel davon, nämlich geschätzte 165.000, in Indonesien. 1,7 Millionen Menschen von Sumatra bis Ostafrika wurden mit einem Schlag obdachlos, besonders viele im dicht besiedelten Südindien.
Der Tsunami war nicht nur eine der größten Naturkatastrophen der Menschheitsgeschichte, er löste auch eine nie da gewesene Spendenbereitschaft aus. Pro Opfer standen nach wenigen Wochen 5.000 US-Dollar zur Verfügung. Bei anderen Naturkatastrophen sind es nur 3 bis 4 Dollar. Allerdings wurde von der staatlichen Hilfe nicht alles, was angesichts der ersten Betroffenheit von Regierungschefs vollmundig versprochen wurde, tatsächlich ausbezahlt.
Dennoch setzte in Südasien ein Bauboom ein, der inzwischen fast alle Obdachlosen mit einem neuen Heim ausgestattet hat, gleichzeitig aber auch der Profilierung von Politikern diesseits und jenseits des Ozeans diente. So manche teure Fehlplanung wurde nach der Übergabe dem Verfall preisgegeben. Legendär etwa das vom österreichischen Kärnten finanzierte Waisenhaus in Aceh, für dessen Einweihung sich der damalige Landeshauptmann Jörg Haider Kinder ausborgen musste. Denn die Tsunami-Waisen waren längst untergebracht. Doch auch andere Spender und Organisationen mit geringer Erfahrung gingen oft unkoordiniert und planlos vor.
Geschätzte 38.000 Menschenleben hatte die Katastrophe allein in Sri Lanka gefordert, über 100.000 Häuser weggespült oder irreparabel beschädigt – 60 Prozent davon im Norden und Osten, wo die tamilischen und muslimischen Minderheiten leben. Trotzdem wurde der von der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung bewohnte Süden beim Wiederaufbau bevorzugt. In Hambantota, dem Wahlkreis von Präsident Mahinda Rajapakse, rühmt man sich, das Hausbauprogramm zu 173 Prozent erfüllt zu haben. An der Ostküste lag die Quote nach drei Jahren bei bescheidenen 39 Prozent, wie die staatliche Reconstruction and Development Agency (Rada) damals zugeben musste. Und auch fünf Jahre nach dem Desaster ist der Wiederaufbau im Norden und Osten noch nicht abgeschlossen. Im Norden sind die zerstörten Dörfer nach der militärischen Vernichtung der tamilischen Separatistenorganisation LTTE zur Hochsicherheitszone erklärt worden und für die Zivilbevölkerung unzugänglich.
In Sri Lanka wurden Hoffnungen, dass die Katastrophe die verfeindeten Parteien zusammenbringen würde, enttäuscht. Ganz anders in der indonesischen Provinz Aceh, die mehr Opfer als jede andere beklagte. Nach mehr als 30 Jahren Krieg unterzeichneten die Regierung und die Separatistenorganisation Gerekan Aceh Merdeka (GAM) im August 2005 einen Friedensvertrag. 30.000 indonesische Soldaten und 15.000 Polizisten wurden abgezogen, die GAM gab ihre Waffen ab.
Verhindern kann man tektonische Verschiebungen auf dem Meeresboden nicht. Doch die katastrophalen Auswirkungen können durch vorbeugende Maßnahmen minimiert werden. Ein Tsunami-Frühwarnsystem – German Indonesian Tsunami Early Warning System (Gitews) – das unter deutscher Leitung im indonesischen Sunda-Bogen, einer tektonisch besonders heiklen Zone, installiert wurde und inzwischen den Betrieb aufgenommen hat, soll dazu dienen, die gefährdete Bevölkerung in den manchmal nur wenigen Minuten zwischen dem Erdstoß und der Ankunft der Flutwelle zu alarmieren. In Thailand musste man zur Kenntnis nehmen, dass mit den Mangrovenwäldern entlang der Küste, die Touristenparadiesen weichen mussten, ein unersetzlicher Schutzschild abgeholzt wurde. Und auf den zu Indien gehörenden Andamanen und Nikobaren bekam man einen Vorgeschmack auf die Konsequenzen des Klimawandels: 15 Inseln verschwanden im Meer.
■ Der Autor ist Österreichkorrespondent der taz. Weihnachten 2004 war er zufällig in Sri Lanka